Kraftquelle

Den Gott, den wir suchen, gibt es nicht

Aber: Gott findet uns! Von Hermann Nickel.

Foto: Hermann Nickel

Die Leiter, ein Gebrauchsgegenstand, in jedem Haus zu finden. Stufen gehen wir jeden Tag, ohne über eine Bedeutung nachzudenken. In der Inszenierung der Leiter im Bild oben wird der Gebrauchsgegenstand zu einer Metapher. Über den Horizont der Dachrinne hinaus ragt die Leiter in den Himmel.

Allgemein sind Leitern oder Stufen Symbole für den Aufstieg – wie z. B. in der Karriereleiter – aber auch weitergehend für den Überstieg in eine andere Wirklichkeitsdimension. Die Anstrengung, Sprosse um Sprosse zu erklimmen, verkörpert die Anstrengung des Aufstiegs in andere spirituelle Dimensionen. So soll deutlich werden: dem Transzendenten zu begegnen ist mit Mühe, Anstrengung, Demut und Gehorsam verbunden. (Vgl.: Halko Weiss, u.a., Das Achtsamkeitsbuch, Stuttgart 2019, S. 11 ff. Siehe auch: Die Leiter zum Paradies nach Johannes Klimakos)

In vielen Religionen ist das Symbol der Stufe oder Leiter zu finden. Die Himmelsleiter führt uns dabei an eine Grenze zwischen hier und dort, zwischen Unten und Oben. So z. B. bei den Stufenbauten der Mayas (Teotihuacán Sonnenpyramide in Mexiko) oder den Stufentürmen im Irak / Mesopotamien. Sie haben das gleiche Ziel, den Überstieg in die Transzendenz zu ermöglichen. Teotihuacán heißt übersetzt: Ort, wo der Mensch zu Gott wird. Es erinnert an den Versuch der Menschen zu Babel, die einen Turm in den Himmel bauen wollten, um sich einen Namen zu machen – also nicht mehr vergänglich sein wollten, oder vergessen werden. Oder auch an das zeitgenössiche Gedicht „Stufen“ von Hermann Hesse. Er schreibt: „der Weltgeist … will uns Stuf um Stufe heben“.

Leitern werden immer wieder als Kunstobjekte in Szene gesetzt. Zwischen Ostern und Pfingsten 2021 erstrahlte als Symbol der Hoffnung Billi Thanners Himmelsleiter am Stüdturm des Stefansdoms in Wien (vgl.: https://www.dompfarre.info/Pfarrgruppen/Kulturelle_Gruppen/Kunst_im_Dom/Himmelsleiter.html, abgerufen 25.5.2021). Maaria Wirkkala sagt zu der von ihr im Jahr 2003 auf dem Dach des Domes in Graz installierten goldenen Leiter: „Der Mensch soll sich dem stellen, was am Horizont seiner Wünsche steht.“ (Himmelschwer. Trasformationen der Schwerkraft, München 2003, S. 102 f). Aber, wie man auf den Bildern sehen kann: jede Leiter, jeder Stufenturm führt ins Leere – und auch der Horizont als Grenze ist uns seit Nietzsche abhanden gekommen (Vgl. Der tolle Mensch).

Der Ausgang der Geschichte des Turmbaus zu Babel ist bekannt: Gott steigt herab und verwirrt die Sprache der Menschen, so dass sich das einstellt, vor dem sie sich gefürchtet haben: Sie werden zerstreut und dem Vergessen anheim gegeben. In der Symbolik der Bibel heißt das: Der Mensch kann nicht in den Himmel „klettern“, aber – und das wird häufig vergessen zu sagen, – Gott kommt in der Erzählung des Turmbaus zu Babel aus dem Himmel zu den Menschen. Den Gott, den die Menschen versuchten zu erreichen, den Gott, den wir suchen, den finden wir nicht. Manchmal denke ich, auch der Gott, der sehr schnell im Religionsunterricht mit uns und bei uns ist, der ist tot.

Kommen wir im Religionsunterricht an Grenzen des Verstehens, der Einsicht, kommen wir mit den Wa-rum-Fragen nicht mehr weiter, dann wird Gott (oder Jesus) schnell als Arbeitshypothese eingeführt. Das ist so, wie in einem Hochseilgarten: hinaufsteigen auf einer Leiter in die höchsten Höhen, ja, den Horizont übersteigen, über der Grenze sein, aber eben doch dreifach abgesichert. Mit (der Arbeitshypothese) Gott kommen wir scheinbar aus allen Schwierigkeiten, die uns ein (Schul-) Alltag stellt. Nur der Alltag der Schüler hat mit Gott nichts mehr zu tun. Bei der Bewältigung des Alltags wird kein Gott mehr benötigt. Die Welt, in der wir leben, kommt ohne Gott aus. Deutlich wird das auch in der Corona-Pandemie. In den großen Pandemien des Mittelalters waren Gott und ein Gelübde die große Hilfe. Heute vertrauen wir uns der Wissenschaft mit den Impfstoffen an und keiner wird auf die Wirkung eines Gelübdes vertrauen. Wir leben in einer Welt ohne Gott. Dietrich Bonhoeffer hat dies in einem berühmten Satz ausgedrückt: „Als Christen leben wir vor und mit Gott ohne Gott“ (vgl. hierzu: Markus Knapp, Weltbeziehung und Gottesbeziehung, Freiburg 2020, S. 14 ff und z. B. 440 ff).

Wie kann ich als Christ aber damit leben, dass wir mit und vor Gott ohne Gott leben? Ich vergewissere mich in dem Buch der Bücher, der Bibel, was über eine Himmelsleiter dort steht. In Gen 28, 10 – 22 finden wir die bekannte Geschichte der Himmelsleiter, von der Jakob träumt: „Er sah eine Leiter, die auf der Erde stand und bis zum Himmel reichte.“ Im Traum spricht dann Gott zu ihm und verspricht, ihn nicht zu verlassen, nicht der Vergessenheit anheim zu geben. Das Buch der Bücher eröffnet uns einen Weg, wie Gott zu uns kommt und dass Gott uns nicht vergisst: durch die Kraft der inneren Bilder und durch das, was Menschen darüber gesammelt und geschrieben haben. Über das Buch, die Bibel, erreicht uns eine andere Wirklichkeit. Diese Wirklichkeit schaffen nicht wir, sondern sie wird überliefert. Indem wir an den Worten der Schrift hochklettern, sie versuchen zu verstehen und miteinander zu teilen; so gewinnen wir diese Wirklichkeit für unser Leben. Das Bild von Quint Buchholz bringt symbolisch zum Ausdruck, wie, vermittelt durch das Buch, wir Gott erfahren.

Im Gen 28, 16 steht: „Jakob erwachte aus seinem Schlaf und sagte: Wirklich, ER ist wirklich an diesem Ort, und ich, ich wusste es nicht“. Jakob lernt, seinen inneren Bildern und Wahrnehmungen zu vertrauen. Insofern weiß er: Ich lebe mit und vor Gott in dieser Welt, in der ich ohne ihn auskommen muss. Zu wissen, Gott ist „ein bleibend Fremdes, Irritierendes, Nichtzuverwandelndes, eben ein konstitutiv Unverfügbares“ (Knapp, ebd., 443), eröffnet uns einen Weg, wie Gott mit uns in Kontakt kommt. Der alte Gott ist für Überraschungen gut, auch wenn wir in dieser Welt ohne ihn leben.

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