
Erzähl mir Deine Geschichte
Von Sinn und Kraft des Storytellings. Von Agnes Rosenhauer.
Eine Vorbemerkung: Geschichte – Erzählung – Narration – Narrativ – story, das sind durchaus unterschiedliche Begriffe. Ein gutes Beispiel zur Differenzbestimmung geben Samira El Quassil und Friedemann Karig (Erzählende Affen. Mythen, Lügen, Utopien. Wie Geschichten unser Leben bestimmen, Berlin 20214, 141–147), die am Beispiel von Gen 2–3(4) die Differenz der Begriffe beschreiben: Die Geschichte handelt von einer Frau und einem Mann, sie werden aus einem exklusiven Garten geworfen, weil sie gegen die Auflagen, Obst von einem Baum zu pflücken, verstießen. Die Erzählung könnte man fassen als die von Scham, Schuld(-bewußtsein) und Vertreibung. Das dominierende Narrativ könnte ein frauenfeindliches sein, und etwa lauten: „Frauen sind schwach und die Folgen ihrer Handlungen gefährlich.“ Sowohl der Vorgang des Erzählens als auch dessen Ergebnis – eine Geschichte im Sinne der englischen Bezeichnung story – wird als Narration bezeichnet (vgl. John Sutherland: 50 Schlüs- selideen Literatur, Berlin/Heidelberg 2012, 28–31).
Sicher sind Sie, liebe*r Leser*in, schon längst „storyteller“, sowohl privat als auch in Ihrem professionellen Kontext als Religionslehrer*in. Denn: Erzählen ist eine urmenschliche Kulturtechnik, die Sinn, Identität und Orientierung stiftet, wie es die mittelhochdeutsche Wurzel bereits andeutet: erzellen bedeutet „aufzählen“, „in geordneter Reihenfolge hersagen“. Indem wir erzählen, bringen wir nachträglich an sich ‚sinnlose‘ kontingente Ereignisse in eine sinnhafte Abfolge und konstruieren eine Kausalität als strukturierende Begebenheit. Das bedeutet: Erzählen ist ein sinnstiftender Prozess (vgl. Martin Huber, Wolf Schmid (Hg), Grundthemen der Literaturwissenschaft: Erzählen, Neukirchen-Vluyn, 2017).
Besonders schön und auf verschiedenen Ebenen sehr eindrucksvoll umgesetzt ist dies nachzuhören oder nachzulesen in der großen Rede des Apple-Gründers Steve Jobs vor Absolventen der Universität Stanford 2005, in der er drei große Geschichten (!) seines Lebens erzählt („…Ich möchte Ihnen heute drei Ge- schichten aus meinem Leben erzählen. Das ist alles. Nichts Besonderes. Nur drei Geschichten. (…)“). Die erste „Geschichte“ überschreibt er mit dem Titel „Zusammenhänge erkennen“ und formuliert am Ende dieser ersten story, in der er u.a. von den widrigen Umständen seiner Adoption, seinem schulischen Werdegang, seinem Studienabbruch etc. erzählt: „(…) wenn Sie in die Zukunft blicken, können Sie nicht erkennen, wo Zusammenhänge bestehen. Das wird erst in der Rückschau möglich. Das heißt, Sie müssen darauf vertrauen, dass sich die einzelnen Mosaiksteinchen in Ihrer Zukunft zu einem Gesamtbild zusammenfügen. Sie müssen auf etwas vertrauen (…) Denn der Glaube daran, dass sich irgendwann die einzelnen Mosaiksteinchen zusammenfügen werden, gibt Ihnen die Zuversicht, dem Ruf Ihres Herzens zu folgen, auch wenn der Sie abseits der ausgetretenen Wege führt – aber das macht den Unterschied.“
Es wird deutlich: Erzählungen dienen neben der Vermittlung von Daten, Fakten, Informationen ins- besondere der Identifikation, der Welterschließung, Wertevermittlung und, das trifft wohl in ganz besonderer Weise auf die großen biblischen Erzählungen zu, der Zugehörigkeit. Wenn ich es richtig sehe, sind dies auch Grunddimensionen des Religionsunterrichts an Schulen. Dass dies zugleich die gefahrvolle Seite von Erzählungen ist, liegt auf der Hand (vgl. politisch ge-/ missbrauchter „Narrative“). Erfreulicherweise kommt uns als christlichen Religionslehrer*innen methodisch zur Hilfe, dass sich unsere Glaubensgemeinschaft u.a. auf fünf große Erzählungen gründet, durch die wir uns und unseren Schüler*innen einen schier unermesslichen Schatz an Identifikationsmöglichkeiten, Welterschließung und Wertevermittlung im/durch storytelling bieten können, nämlich die Möglichkeit, die eigene biographische „small story“ mit der „big story“ zu verbinden.
Gewinnbringend könnte z. B. sein, sich mit der lukanischen Version der Jüngerberufung unter der Perspektive „Entscheidungs-Mut“ zu beschäftigen (das große Fischfangwunder spielt dabei zunächst nur eine untergeordnete Rolle). Kinder und junge Erwachsenen (aber auch z. B. Eltern) sind in der Gegenwart fast unablässig dazu aufgefordert, Entscheidungen zu treffen. „Mache ich mit“, wenn meine Freunde jemanden „ghosten“? Lade ich die neueste Spiele-App runter, weil sie „alle“ haben“? Was, wenn ich kein „WhatsApp“ benutze? Bin ich dann „raus“? Halte ich es aus, wenn mich andere „schief anschauen“ und vielleicht sogar über mich „ablästern“, weil ich mich für oder gegen etwas entscheide und die meisten Leute meine Entscheidung als „abseitig“, vielleicht sogar „crinch“ beurteilen?
Bei einem solchen vorgeschlagenen Zugang zu Lk 5 stehen die beteiligten Personen im Zentrum der Auseinandersetzung mit der Erzählung. Jesus fordert Simon Petrus auf, mit ihm auf den See hinaus zu rudern, um von dort die Massen mit seiner Predigt besser zu erreichen. Der Text erzählt, dass Simon gerade ganz andere Sorgen hat, als einem zugegebenermaßen erfolgreichen Wanderprediger zu Diensten zu sein: Das Überleben seiner Familie angesichts der nächtlichen Fischfangmisere ist sein Thema. Ganz existentielle Fragen treiben ihn um. Und da kommt einer daher, den er auf den See hinaus rudern soll? Vielleicht hat er sogar vom Aufruhr im ca. 25 km entfernten Nazareth gehört (Lk 4), den dieser Jesus dort verursacht hat und der fast mit der Ermordung desselben geendet hätte (Lk 4,28f.). Vielleicht ist dieser Mann ja auch gefährlich? Was sagen vielleicht nazarenische Freunde des Petrus, wenn sie hören, dass er diesem Jesus behilflich ist?
Nach der Predigt wird es noch „verrückter“: Jesus fordert Simon Petrus auf, mitten am Tag die Netze auszuwerfen (Lk 5,4), um Fische zu fangen. Wie irritiert muss dieser Simon Petrus sein, als er erwidert, dass Fischfang am Tag mit Wurfnetzen „verrückt“ sei. Vorstellbar ist, dass Simon Petrus sogar Gefahr läuft, sich vor seinen Fischerkollegen lächerlich zu machen. Wie wäre das auszuhalten, von den eigenen Freunden wie z. B. Johannes und Jakobus und Kollegen ausgelacht zu werden? Petrus trifft wider besseren Erfahrungswissens die Entscheidung zu tun, was Jesus ihm aufträgt. Warum? Erst im NACHHINEIN zeigt sich, dass die Entscheidung Petrus doch nicht zum Nachteil gereicht: Das Netz/die Netze sind übervoll. Und dennoch: Die Begegnung hätte auch ganz anders ausgehen können.
Es erfordert Mut, Entscheidungen zu treffen, und um wie viel mehr, wenn ich von vorne herein mit negativen Konsequenzen rechnen kann. Fragen, mit denen sich Schüler*innen auseinandersetzen könnten, vielleicht sogar in Kleingruppen und im Einbringen von eigenen biographischen Erfahrungen, wären ganz ein- fach: Wie würdest Du Dich entscheiden? Und: Warum entscheidest Du Dich so? Kennst Du analoge Entscheidungssituationen? Hast Du eine Idee davon, was Dich mutig gemacht hat, die Entscheidung so zu treffen, wie Du sie getroffen hast? Eine andere Idee könnte sein, die Schüler*innen zu bitten, eine Story zu erzählen/zu schreiben, in der die Entscheidung des Simon Petrus anders ausfällt. Wie würde es mit diesem Simon Petrus weitergehen? Worüber würde er nachdenken, immer wenn er von diesem Jesus hört? Eine andere interessante Perspektive böte auch die Familie des Simon Petrus, um die er sich am Beginn der Erzählung sorgt: Am Ende verlässt Simon Petrus ALLES, also auch seine Familie, um Jesus nach zu folgen. Welche story würden sie wohl erzählen?


