Schulpastoral und Spiritualität

Wenn die Gemeinde predigt

Bibliolog als kreativer Zugang zum Wort Gottes. Von Thorsten Kneuer. Vorgestellt von Anja Legge.

Mit dem Bibliolog als kreative Methode des Umgangs mit der Bibel hat sich Thorsten Kneuer in den letzten Jahren beschäftigt. In einer umfangreichen Untersuchung mit dem Titel „Bibliolog: Wenn die Gemeinde predigt“ zeigt der Priester, Diözesanreferent für Schulpastoral und Jugendseelsorger in der Region Main-Rhön, wie Menschen aktiv in einen Dialog mit den biblischen Texten treten und diese lebendig erfahren können. Kneuer erklärt das Vorgehen beispielhaft am Bibliolog als partizipative Predigtform. Darüber hinaus eignet sich die Methode aber ebenso für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen, etwa im Religionsunterricht.
Bibliolog ist für Thorsten Kneuer nicht nur eine Methode der Schriftbetrachtung, sondern „eine Haltung, die sich durch Wertschätzung, Respekt, Interesse und Neugier den Teilnehmenden und den biblischen Texten gegenüber auszeichnet“. In einem dynamischen Prozess versetzen sich die Teilnehmenden in die Rollen biblischer Personen und erleben die Erzählungen unmittelbar und persönlich. Entwickelt wurde der Bibliolog in den 1990er Jahren vom jüdisch-amerikanischen Literaturwissenschaftler Peter Pitzele in der Tradition des Midrasch, einer alten jüdischen Methode der Interpretation, Kommentierung und Erklärung biblischer Texte. Rasch wurde der Ansatz von christlichen Theologinnen und Theologen wie Uta Pohl-Patalong aufgegriffen und für die Praxis adaptiert.

Vorbereitungen

Besonders geeignet sind nach Kneuers Erfahrung Texte mit einer narrativen Erzählstruktur und verschiedenen Charakteren, außerdem Geschichten mit Dialogen, Konflikten und Emotionen. Je weniger Vorwissen nötig sei, umso leichter falle die aktive Beteiligung. Hilfreich sei zudem eine zeitgemäße, gut verständliche Übersetzung (BasisBibel, Neue Einheitsübersetzung); ungewohnte Übersetzungen könnten wiederum helfen, sehr vertraute Geschichten anders zu hören. Entscheidend sei die richtige Balance zwischen „schwarzem und weißem Feuer“, also dem gedruckten Text selbst und dem, was zwischen den Zeilen steht, also Gedanken, Gefühle, Motive und unausgesprochene Annahmen der biblischen Personen.
Bei der Rollenauswahl sollte die Leitungsperson ein Spektrum anbieten, das die verschiedenen Perspektiven innerhalb des Textes abbildet und viel Raum für weißes Feuer ermöglicht. Das schließt neben Haupt- und Nebenfiguren auch Tiere oder abstrakte Konzepte und unbelebte Objekte wie einen Baum oder den Sturm mit ein. Die Rollen sollten dabei sowohl Identifikation als auch Distanzierung zulassen. Hinsichtlich der Szenenauswahl bieten sich vor allem Szenen an, die einen dynamischen Verlauf versprechen, zu Interaktionen und Dialog einladen.
Für das Gelingen zentral – so betont Kneuer immer wieder – ist auch die Leitungsperson: Sie sollte ihre Rolle reflektiert ausfüllen, für eine sorgfältige Balance zwischen Anleitung und Offenheit sorgen und sensibel sein für die Gruppendynamik, um ausgewogene und vielschichtige Prozesse zu fördern und einseitige Interpretationen zu vermeiden.

Ablauf: Vom Prolog bis zum Epilog

Der Prolog ist der Schlüssel, um eine vertrauensvolle und offene Umgebung zu schaffen, in dem sich die Teilnehmenden trauen, die interaktive Welt des Bibliologs zu entdecken. Hier werden auch die die grundlegenden Regeln erklärt, nämlich: Alle können auf die je eigene Weise mitmachen, jede und jeder kann, niemand muss etwas sagen. Und: Es gibt kein richtig oder falsch, alle Gedanken bereichern den Bibliolog und helfen dabei, den Text zu verstehen.
Die Hinführung ist die Brücke zwischen der Realität und der Welt des biblischen Textes. Die Teilnehmenden werden aus ihrem alltäglichen Denk- und Erfahrungsrahmen heraus- und in eine tiefere, meditative Auseinandersetzung mit dem biblischen Text geführt. Die Leitungsperson gibt Informationen über Text, Ort und Rahmenhandlung und lässt die Teilnehmenden in die Szenerie des biblischen Textes eintauchen.
Dann werden alle eingeladen, sich mit einzelnen biblischen Figuren zu identifizieren und ein tieferes Verständnis und Empathie für deren Motivationen, Gefühle und Handlungen zu entwickeln. Mit den Grundtechniken „echoing“ und „interviewing“ unterstützt die Leitungsperson die Gruppe: Beim „echoing“ werden die Aussagen der Teilnehmenden leicht paraphrasierend wiederholt, und zwar ohne Wertung, dafür aber mit viel Wertschätzung und Respekt. Durch „interviewing“ kann man dazu ermutigen, eine Aussage zu präzisieren, zu ergänzen oder die eigenen Gedanken und Gefühle weiter zu erforschen und ins Wort zu bringen.
Der Epilog führt die Personen aus der Trance heraus und zurück in die Gegenwart. Zum Abschluss wird der gesamte Bibeltext noch einmal vorgelesen. So kommt der Bibel selbst das abschließende Wort zu. Das erneute Hören unterstützt zudem dabei, die erlebten Einsichten zu verinnerlichen, so dass die Teilnehmenden die Erkenntnisse in ihren Alltag mitnehmen und als Lebenshilfe entdecken können.

Große Chance für mehr Lebendigkeit

Obwohl die Interpretationen einer hohen Subjektivität unterliegen eine Vernachlässigung des historisch- kulturelles Kontextes die Gefahr anachronistischer Deutungen oder Missverständnisse berge, überwiegen nach Ansicht von Thorsten Kneuer die Chancen und Stärken des Bibliologs bei weitem. Indem die Methode persönliche und emotionale Zugänge zu biblischen Texten eröffnet, trage sie wesentlich dazu bei, die Relevanz und Lebendigkeit biblischer Erzählungen für Menschen von heute zu fördern.
Durch den niederschwelligen Zugang, der weder Vorwissen noch schauspielerische Fähigkeiten verlangt, ist die Methode für jede und jeden zugänglich. Das dialogorientierte Vorgehen fördere ein gemeinschaftliches Verstehen und ermögliche tiefgehende Auseinandersetzung mit den Schrifttexten, so Kneuer: „Die Teilnehmenden erleben, dass nicht eine einzelne Person die Deutungshoheit über einen Text hat, sondern alle sind gleichberechtigte Interpretinnen und Interpreten. Glaube wird als lebendiger, sich ständig entwickelnder Dialog verstanden, an dem alle glaubenden Menschen teilhaben dürfen, und nicht als Gebilde von Dogmen und unumstößlichen Wahrheiten.“ In der persönlichen Begegnung und auf dem Nährboden der persönlichen Geschichte werde die biblische Botschaft als relevant für das eigene Leben wahrgenommen. Auf diese Weise „bringt die Methode eine große Fülle an Glaubenserfahrung und Bibelverständnis zum Vorschein, die sonst unentdeckt bliebe“, bilanziert Kneuer und berichtet am Ende von „heiligen Momenten“, in denen er gespürt habe: „Da bringt sich Gott selbst zum Ereignis.“ Einer dieser Augenblicke war, als ein vier Jahre altes Mädchen in der Rolle des Wirtes das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter auslegte, indem es sagte: „Weißt du, Samariter, du musst nicht noch mehr Geld geben. Du hast schon genug gemacht. Den Rest bezahle ich.“
Das Handwerkszeug ist in Bibliolog-Grund- und Aufbaukursen erlernbar: Kurstermine, weitere Infos und Literaturtipps gibt es unter: https://www.bibliolog.org/

Thorsten Kneuer bei einem Bibliolog in der Gemeinde St. Anton. Foto: Hubert Goldstein

 

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