Kirchengeschichte ist brandaktuell!
Im Interview mit Anja Legge berichtet Dr. Jochen Krenz über Bedeutung, Genese und Einsatzmöglichkeiten seiner Materialsammlung für den neuen Lernbereich KR 11 / 1.
Mit der Rückkehr zum neunstufigen Gymnasium in Bayern wurden neue Lehrpläne für die neue 11. Klasse nötig. Im Fach Katholische Religionslehre enthält der LehrplanPlus dabei den völlig neuen Lernbereich „Zwischen Tradition und Aufbruch – Kirche im gesellschaftlichen Modernisierungsprozess“ rund um Aufklärung, Französische Revolution und Kulturkampf im 19. Jahrhundert. Oberstudienrat Dr. Jochen Krenz, der bis 2020 Deutsch, Geschichte und Katholische Religionslehre am Friedrich-Dessauer-Gymnasium Aschaffenburg unterrichtet hat und aktuell an der Europäischen Schule Brüssel II arbeitet, hat sich in seiner Promotion intensiv mit genau dieser Phase beschäftigt. Weil es bisher noch keinerlei Handreichungen zum neuen Lernbereich gibt, hat er sein umfangreiches Quellenmaterial nun auch für den Unterricht aufbereitet und den Lehrkräften in der Diözese Würzburg und darüberhinaus zur Verfügung gestellt.
Was hat Sie zur Erstellung der Materialsammlung bewogen?
Die Basis bildet mein Forschungsinteresse. Während meiner Promotion habe ich mich intensiv mit der Frage beschäftigt, wie die Französische Revolution in Deutschland rezipiert wurde. Dahinter steht der Konflikt zwischen Kirche und Moderne, der das gesamte 19. Jahrhundert bis zum Vorabend des II. Vatikanums entscheidend geprägt hat. Mit der Französischen Revolution kochte die von den Debatten um die Aufklärung angeheizte theologische Stimmung jener Zeit über. Die sich daraufhin entspinnenden Kämpfe sind paradigmatisch, weil sie den Widerspruch zwischen Aufklärung und Gegenaufklärung, Wandlung und Wagenburg auf den Punkt bringen.
Im Religionsunterricht wurde diese wichtige Phase ja lange vernachlässigt…
Richtig. Bei der Arbeit mit dem bisherigen bayerischen Lehrplan habe ich mit Erschrecken festgestellt, dass eine enorme Lücke zwischen Reformation und NS-Zeit klaffte. In der neunten Klasse wurde das II. Vatikanische Konzil zwar als bahnbrechender Wandel beschrieben. Aber all das hing im luftleeren Raum, weil das 19. Jahrhundert einfach fehlte.
Warum ist das 19. Jahrhundert denn für den Religionsunterricht so wichtig?
Weil genau um diese Fragen von damals bis heute gerungen wird: Welche Reformen darf es geben? Welche muss es geben? Wo sind die Grenzen? Und weil man ohne die Vorgeschichte einfach nicht erfasst, welch gewaltiger Aufbruch das II. Vatikanische Konzil ist. Im 19. Jahrhundert entstand erst dieses Bild von Kirche als fest geschlossene Wagenburg, die sich gegen alles Moderne stemmt. Professor Hubert Wolf spricht hier von der „Erfindung des Katholizismus“ und der Tradition einer ewig gleichen und unwandelbaren Kirche, Professor Christoph Weber bezeichnet den Ultramontanismus gar als „katholischen Fundamentalismus“. Aber: Die Kirche des Alten Reiches war lange nicht so zentralistisch und auf den Papst zugespitzt wie die ultramontane Kirche des 19. Jahrhunderts. Nein, es gab schon immer liberale Strömungen, aber eben auch Gegner, die die Aufklärer als schismatisch verteufelten und Reformern mit Höllenqualen drohten.
Inwiefern ist das für junge Menschen interessant?
Vor allem zwei Dinge wecken Interesse: Das Unerklärliche, Rätselhafte, Mysteriöse sowie der Bezug zur heutigen Lebens- und Glaubenswelt. Und beides bietet diese Epoche im Übermaß. Im binnenkirchlichen Kontext hören wir auch heute noch Argumente einer unwandelbaren Kirche und Gott gegebener Ordnung. Auch in Gesellschaft und Politik werden Veränderungen gerne abgelehnt, weil „wir das schon immer so gemacht“ haben. Kirchengeschichte ist ein Schlüssel des Weltverständnisses! Sie beantwortet Fragen wie: Wie behaupten sich Religionsgemeinschaften in einer nicht-religiösen Umgebung? Wie gehen wir mit anderen Religionen um? In welchem Verhältnis stehen Staat und Kirche? Die Diskurse wiederholen sich. Und viele Strategien, die damals angewandt wurden – Verteufelung des Gegners, manipulierende Verkürzungen von Tatsachen bis hin zu Fakenews – gibt es heute wieder.
Das 19.Jahrhundert ist also brandaktuell?
Absolut! Religionsunterricht kann hier den Impuls mitgeben, die Dinge nicht einfach hinzunehmen, sondern zu hinterfragen. Er setzt den aufklärerischen Impetus um, der bis heute gilt: Wage zu denken! Er will zu interkulturellem Diskurs ermutigen, populistische Schlagwörter und Rattenfänger entlarven, ist ein Remedium gegen Fundamentalismus und wappnet für die Herausforderung der Gegenwart.
Mit welchen Methoden sollen sich die Schülerinnen und Schüler dem Thema nähern?
Im Zentrum steht quellengestütztes und multiperspektivisches Arbeiten. Hinzu kommen Rollenspiele, Bildimpulse und Karikaturen, Diskussionsanregungen, Rechercheaufträge und vieles mehr.
Wie soll das Material von Lehrkräften genutzt werden?
Es bietet zu jedem historischen Anknüpfungspunkt im Lehrplan eine Sequenz mit mehreren Stunden-Vorschlägen. Natürlich kann dieses Füllhorn aus über 300 Seiten niemals in einer Klasse und 15 Stunden umgesetzt werden. Es ist vielmehr als Buffet gemeint. Die Aufgabe besteht darin, mit Blick auf die Klasse auszuwählen und Schwerpunkte zu setzen. Zu jedem Thema gibt es eine Lang- und eine Kurzversion. Die Kurzversion präsentiert das Thema didaktisch zugespitzt, die Langversion liefert Zusatzmaterial etwa für arbeitsteilige Gruppenarbeit.
Haben Sie bereits erste Praxis-Erfahrungen?
Am Friedrich-Dessauer Gymnasium habe ich Auszüge aus dem Material in der Mittelstufe Plus und der 11. Klasse eingesetzt. Bei den Jugendlichen löste vieles großes Erstaunen aus. Vor allem der Kontrast lehramtlicher Haltungen von damals und heute zeigte: Es gibt sehr wohl Veränderungen der Lehre, Kirche ist nicht unwandelbar. Außerdem kam Neugier auf, warum die Kirche derart schroff auf die Bedrohungen reagiert hat. Und dann haben wir natürlich Mechanismen erkannt – wie Feindbilder entstehen, wie man mit Schlagwörtern Stimmung macht, wie Gruppen ins Abseits gestellt werden.
Welche Hoffnung verbinden Sie mit der Handreichung?
Vor allem möchte ich meinen Kolleginnen und Kollegen den Start in den neuen Lernbereich erleichtern. Und dann soll das Material eine Ermutigung sein. Wie es schon die Würzburger Synode im Geist des Konzils formuliert hat: „Liebe zur Kirche und kritische Distanz müssen einander nicht ausschließen. „Die Spannung zwischen Anspruch und Realität, zwischen der Botschaft Jesu Christi und der tatsächlichen Erscheinungsweise seiner Kirche, zwischen Ursprung und Gegenwart, darf nicht verharmlost und schon gar nicht ausgeklammert werden“. Manche Verdammung, die heute geäußert wird, wird hoffentlich in einigen Jahrzehnten obsolet sein. Kirchengeschichte zeigt uns, was wirklich geht!
Das Interview führte Anja Legge