Das lange 19. Jahrhundert der Kirche
Materialsammlung für die 11. Klasse Gymnasium. Von Jochen Krenz. Vorgestellt von Anja Legge.
Der bayerische LehrplanPlus für die neue 11. Klasse am Gymnasium enthält im Fach Katholische Religionslehre einen völlig neuen Lernbereich. Unter dem Titel „Zwischen Tradition und Aufbruch – Kirche im gesellschaftlichen Modernisierungsprozess“ soll es in rund 15 Stunden um Aufklärung, Französische Revolution, Kulturkampf im 19. Jahrhundert, das Zweite Vatikanum sowie Kirche und Gesellschaft im 21. Jahrhundert gehen. OStR Dr. Jochen Krenz, der bis 2020 Deutsch, Geschichte und Katholische Religionslehre am Friedrich-Dessauer-Gymnasium Aschaffenburg unterrichtet hat und aktuell an der Europäischen Schule Brüssel II arbeitet, hat rechtzeitig zu Beginn des Schuljahres 2023/24 umfangreiches kirchengeschichtliches Quellenmaterial für diesen Lernbereich vorgelegt.
Basis des über 300 Seiten starken Materials, das Lehrkräften frei zugänglich und direkt im Unterricht einsetzbar ist, bildet Krenz‘ Promotionsarbeit. Hier hat er gezeigt, wie die Konflikte im Nachgang der Französischen Revolution das gesamte 19. Jahrhundert bis zum Vorabend des II. Vatikanums prägen und wie sie den Widerspruch zwischen Aufklärung und Gegenaufklärung, Wandlung und Wagenburg auf den Punkt bringen. „Ohne das 19. Jahrhundert, in dem dieses Bild von Kirche als fest geschlossene Wagenburg, die sich gegen alles Moderne stemmt, entstanden ist, kann man den gewaltigen Aufbruch das II. Vatikanischen Konzils gar nicht erfassen“, urteilt Krenz. Und um genau die Fragen jener Zeit werde bis heute gerungen: Welche Reformen darf es geben? Welche muss es geben? Wo sind die Grenzen?
Weil das 19. Jahrhundert „von brennender Aktualität“ ist, hatte Jochen Krenz bereits 2018 auf einer Lehrerfortbildung der Diözese Würzburg dafür plädiert, diese Epoche in den Lehrplan aufzunehmen. „Der Stand der Dialogoffenheit und Integrationsfähigkeit von Religionsgemeinschaften stellt nämlich eine Schlüsselfrage für das Zusammenleben in unserer heutigen zunehmend multireligiösen Gesellschaft dar“, ist er überzeugt. Gerade in Zeiten zunehmender interkultureller Begegnungen sei die Beschäftigung mit Kirchengeschichte unverzichtbar, ist ein Schlüssel für das moderne Weltverständnis: „Sie schärft den Blick auf genuin christliche Standpunkte und historische Entwicklungen, bringt aber auch ein selbst-kritisches Geschichtsbewusstsein hervor und trägt entscheidend dazu bei, junge Christinnen und Christen dialogoffen zu halten und die historische Prägekraft des Christentums in unserer immer diversifizierteren Gesellschaft zu reflektieren.“ Zugleich erlaube die historische Analyse des Ultramontanismus „aufschlussreiche Einblicke in fundamentalistische Radikalisierungsprozesse einer zutiefst verunsicherten Religionsgemeinschaft“. In einer multireligiösen Gegenwart geben die Lehrplaninhalte den Impuls mit, die Dinge nicht einfach hinzunehmen, sondern zu hinterfragen, sie „ermutigen zu interkulturellem Diskurs, entlarven populistische Schlagwörter, wenden sich gegen Fundamentalismus und sind Rüstzeug für die Herausforderungen der Gegenwart“.
Ausgewählt und sortiert hat Jochen Krenz das Material nach den Kompetenzerwartungen des LehrplanPlus. Laut Lehrplan sollen die Schülerinnen und Schüler wahrnehmen, „inwiefern das heutige Modell einer offenen Gesellschaft von Gedanken der Aufklärung geprägt ist, sie deuten die Auseinandersetzungen mit den vielschichtigen Fragestellungen der Aufklärung als bleibende Herausforderungen für Kirche und Theologie, beschreiben Veränderungen im Selbstverständnis der Kirche als Folge einer Auseinandersetzung mit diesen Herausforderungen und analysieren aktuelle, für den Glauben relevante Zeitströmungen und positionieren sich dazu“. Neben sachlicher Kenntnis geht es also immer um die Verzahnung mit dem Heute und Hilfestellung für aktuelle Problemstellungen.
Aus den begleitenden Erläuterungen zum Lernbereich hat Jochen Krenz elf mögliche Themenschwerpunkte abgeleitet; sie sind historisch anspruchsvoll, wollen aber zugleich Anknüpfungspunkte zum Heute herstellen. Inhaltlich geht es etwa um die Kirche während der Französischen Revolution, die Säkularisation und ihre Folgen, das Unfehlbarkeitsdogma, Kulturkampf, Modernismuskrise und Demokratieskepsis sowie Fragen der Ökumene. Am Ende stehen das II. Vatikanische Konzil und die nachkonziliaren Konflikte zwischen Kirche und Öffentlichkeit.
Zu jedem Themenschwerpunkt liefert Krenz ein ganzes Füllhorn historischen multiperspektivischen Quellenmaterials wie Auszüge aus Verfassungen, Enzykliken, politischen Reden und Konzilstexten, Zeitungsberichte, Gedichte, Predigten, Papstzitate oder exemplarische Lebensläufe. All das ist als fertige Kopiervorlage für den Unterricht aufbereitet – inklusive passender Arbeitsaufträge und weiterführender Diskussionsimpulse. Zu den Quellen kommen außerdem Rollenspiele, Diskussionsanregungen, Bildimpulse, Karikaturen, Rechercheaufträge und vieles mehr.
Den Rahmen von etwa 15 Stunden übersteigt die auf den ersten Blick überwältigende Materialfülle bei weitem. „Natürlich können und sollen Lehrkräfte keineswegs alles in einer einzigen Klasse einsetzen“, kommentiert Krenz. Aufgabe der einzelnen Lehrkraft sei es vielmehr, mit Blick auf die jeweilige Klasse auszuwählen und Schwerpunkte zu setzen. Eine Hilfe kann dabei sein, dass zwischen Basismaterial, Vertiefungsmaterial und historischen Schmankerl unterschieden wird. Außerdem gibt es zu jedem Thema eine Langund eine Kurzversion. Die Kurzversion präsentiert das Thema didaktisch zugespitzt, die Langversion liefert Zusatzmaterial etwa für arbeitsteilige Gruppenarbeit. Zusätzlich gibt es Hinweise zu Gestaltung und Aufbau der Unterrichtsstunden, Stundenskizzen und Vorschläge für Tafelbilder. Geeignet ist das Material auch für W-Seminare oder die Wissenschaftswoche.
Dass die beschriebene Epoche bei den Jugendlichen sehr wohl auf Interesse stößt, hat Jochen Krenz bereits selbst erlebt. Nun ist er gespannt auf Reaktionen, Erfahrungen und Rückmeldungen seiner Kolleginnen und Kollegen im Bistum Würzburg und darüber hinaus.