
Bibel und Tradition: Keine falsche Scheu!
Von Johannes Pfeiff.
Bibel und Tradition sind ja gerade nicht Stichworte, die Schüler*innen hinter dem Ofen hervorlocken bzw. die vorm Einschlafen im Unterricht bewahren. Beides klingt in Schülerohren angestaubt, weit entfernt vom eigenen Leben, unbeweglich und fremd. Wie kann der LehrplanPlus da behaupten, dass der Reliunterricht mit diesem Gegenstandsbereich „Zugänge zur lebensbedeutsamen und befreienden Kraft des Wortes Gottes in den biblischen Überlieferungen“ eröffnet? Ist das nicht bloß ein frommer Wunsch, der wieder einmal belegt, wie groß die Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit kirchlicher Verkündigung geworden ist?
Glücklicherweise ergänzen die Lehrpläne der weiterführenden Schulen diesen mutigen Satz noch um den etwas umständlich formulierten „Einbezug kirchengeschichtlicher Vergewisserungen“, der beim Nachvollzug der Bedeutung des christlichen Glaubens behilflich sein soll. Schaut man zu diesem Anlass mal mit ernsthaftem Interesse in die Kirchengeschichte, wird schnell klar, dass Bibel und Tradition erheblich fluider sind, als Schüler*innen diese Begriffe dechiffrieren. Denn nichts in der Geschichte des Volkes Gottes war schon immer so, wie es uns heute begegnet. Alles unterlag und unterliegt einer Entwicklung, die dem Begriff der Tradition inhärent ist – und die zugleich sicherstellt, dass Bibel und Tradition heute lebensbedeutsam sein können. Schließlich meint das lateinische traducere „hinüberführen“ und „übersetzen“.

Was Schüler*innen also als staubige, in Riten erstarrte Institution erscheint, ist zugleich Ergebnis eines vielgestaltigen Überlieferungs- und Übersetzungsprozesses, der alte Wahrheiten und das biblische Zeugnis immer neu in seiner Gegenwart aktualisiert und nachvollzieht, um nicht in einem ahistorischen Fundamentalismus zu verkümmern. Von Pfingsten an ist Kirche auf einem Weg durch die Geschichte, der von Konzilien, sozialen Bewegungen, geistlichen Aufbrüchen, dem Ringen um liturgische Praxis, von Re- formen und Reformatoren geprägt ist. Von Gott-Suchern, die mal auf dem Scheiterhaufen gelandet sind und mal — jedenfalls in den Träumen Papst Innozenz III. — die einstürzende Kirche gerettet haben. Deshalb erklärt sich das biblische Zeugnis auch nicht von selbst, sondern entfaltet sein ganzes Potenzial erst im Zusammenspiel mit einer lebendigen Tradition (traditio viva), wie es das Konzilsdokument Dei Verbum betont.
In diesem großen Spannungsfeld bewegt sich auch der Reliunterricht im Kleinen. Das Klassenzimmer selbst wird zum Ort des Übersetzens althergebrachter Erkenntnisse und Erfahrungen im Horizont kritischer junger Menschen. Auf diesem Weg vermag der Reliunterricht Verständnis dafür zu wecken, dass alles, was als „staubig“ und „erstarrt“ an dieser Kirche wahrgenommen wird, ein Herkommen hat. Dass es eine Begründung für jede Tradition gibt, die vorherigen Generationen einleuchtend war und die nun wiederum auf ihren Gehalt, ihre Legitimation und Plausibilität überprüft werden muss. Solche Reflexionsleistungen partizipieren an dem Prozess, den der Begriff Tradition umschreibt, und sind in der kirchenhistorischen Retrospektive lebensnotwendiges Manna der Kirche.

Wie das gehen kann, zeigt auch der Katholikentag, den wir 2026 in Würzburg als Gast begrüßen. Dort wird das „Übersetzen“ und „Aktu- alisieren“ der kirchlichen Tradition greifbar und die Lebendigkeit kirchlicher Tradition erfahrbar. Der althergebrachte, überlieferte Glaube begegnet uns dort lebendig, vielfältig, streitbar und zugleich tragend. Das Leitwort des Katholikentags 2026 greift die Lebendigkeit unserer Tradition auf: „Hab Mut, steh auf!“ Es ist ein biblisches Wort (vgl. Mk 10,49) – bemerkenswerterweise fast gleichlautend mit dem Motto des Evangelischen Kirchentags 2025. In der Perikope überbrücken die Jünger Jesu die Distanz zwischen dem um Hilfe bittenden Bartimäus und dem entfernt Stehenden. Sie machen dem Blinden Mut aufzustehen, um Gehör zu finden. Sein mutiges Aufraffen schafft schließlich Raum für das Wunder (freilich nicht im Sinne einer Werkgerechtigkeit, denn das gibt der Text nun wirklich nicht her). Der ermutigende Zuspruch der Jünger wird zum Aufruf der Teilhabe: es gibt keinen Grund für Schüchternheit. So wild und exklusiv ist das mit dem Heiland und seiner Bewegung offenbar nicht: „Keine falsch Scheu!“
Das ist dann auch ein schönes Motto für das Klassenzimmer: Wenn Schüler:innen sich von dem passiven Konsum religiöser Inhalte emanzipieren und sich als Mitgestalter:innen von Kirche und Welt begreifen, werden Bibel und Tradition lebendig und – was könnte schöner sein – der Reliunterricht als relevant für die eigene Lebenswirklichkeit erfahren.

