Eigene Antworten auf die großen Fragen
Wie wirken „Andersorte“ auf den Menschen und wie werden sie zum Ausgangspunkt für ein philosophisches Gespräch? – Ein Erfahrungsbericht. Von Anja Legge.
Dass das Klassenzimmer nicht zwingend der einzig geeignete Raum ist, um existentiell bedeutsame Fragen zu bearbeiten, hatten die neun TeilnehmerInnen der Fortbildung „AndersOrte – Vom Ort zum Thema“ (vgl. Artikel Sander) bereits am ersten Tag gehört. Vielmehr sprechen viele Orte, an denen Menschen sich aufhalten, diese auf die ein oder andere Weise an und können ganz unerwartet zu den großen Fragen führen.
So weit, so gut. Um nun aber nicht bei der reinen Theorie stehen zu bleiben, sondern ins Tun zu kommen, haben Thomas Riebel und Gerlinde Krehn den Tagungsraum im Burkardushaus am zweiten Tag bewusst verlassen und einen Andersort besucht. Im Museum am Dom (MAD) konnte der Kurs unter Anleitung der beiden Trainer für philosophische Gesprächsführung selbst ausprobieren, wie Andersorte Themen anstoßen, wie sich daraus ein philosophisches Gespräch entwickelt und was es im schulischen Kontext zu beachten gilt.
Von Anfang an sorgen der ungewohnte Ort und die damit einhergehende Offenheit für Verunsicherung und Neugier gleichermaßen. Ein Gefühl, das gewollt ist und das die TeilnehmerInnen mit den Schülerinnen und Schülern verbinden dürfte. „Der Ort gibt das Thema vor“, erklärt Thomas Riebel zum Einstieg, und das könne „bei jedem ganz anders aussehen“. Die Leitfrage für einen ersten Rundgang durch die neu konzipierte Ausstellung im MAD ist deshalb: „Was stößt das Gesehene in Dir an? Spricht Dich ein Kunstwerk besonders an? Was bewegt Dich daran?“ Die neun Erwachsenen schwärmen aus, lassen sich treiben oder verfolgen zielgerichtet einen Weg, bleiben an diesem Bild stehen, gehen an jener Skulptur vorbei. Als Thomas Riebel das Gespräch in der Stuhlrunde eröffnet, könnte die Rückmeldung nicht bunter sein: Während eine Besucherin die Lebendigkeit und Fülle der Farben wahrnimmt, wird ein anderer von körperlichen Leidensdarstellungen gefangen genommen, ein dritter stellt sich vor einer Porträtwand die Frage nach der eigenen Identität.
„Im ersten Schritt geht es darum, aus der Fülle der auftauchenden Themen eine konkrete Frage herauszudestillieren“, leitet Gerlinde Krehn an. Zunächst verständigen sich die Teilnehmer in Kleingruppen auf eine Frage. Einige wollen angesichts der Tüten-Könige im Eingangsbereich wissen: „Wie können wir unsere christliche Kultur lebendig halten?“. Diejenigen, die an der Video-Installation zum Abendmahl hängen geblieben sind, fragen sich: „Kann ich Einfluss auf andere nehmen?“. Am Ende einigt man sich – ausgehend vom Museumskonzept – auf die Frage „Wo ist der rote Faden?“
Vor Gesprächsstart legt Moderator Thomas Riebel einen Zeitraum von 20 Minuten fest und nennt die Gesprächs-Regeln: Wer den Gesprächsball hat, spricht, alle anderen hören aufmerksam zu. Es geht nicht um „richtig“ und „falsch“. Alles darf gesagt werden, was gedacht werden kann. Und zugleich: Alles darf hinterfragt und nachgefragt werden. Eine Sanduhr zeigt fünf Minuten vorher das nahende Ende an.
Die ersten Äußerungen sind wie ein ungeordnetes Brainstorming: „Jeder Faden hat einen Anfang und ein Ende“, „Kann ich den roten Faden selbst sehen oder kann das nur ein Außenstehender?“, „Ich sehe den roten Faden nur dann, wenn ich sortieren und innehalten kann“, heißt es da. Moderator Riebel hört aufmerksam zu, fasst gelegentlich zusammen, gibt behutsam einen neuen Impuls: „Wozu braucht es überhaupt einen roten Faden?“, wirft er in die Runde und sofort folgen unterschiedlichste Reaktionen wie „Halt, Orientierung, Geländer“ oder aber der leise Verdacht, dass es „vielleicht sogar viele rote Fäden“ geben könnte. Ganz intuitiv stellt die Gruppe eine Verbindung zum eigenen Leben her, plötzlich geht es um Orientierung, Werte, Verantwortung, Urgrund, Sinn und Ziel des Lebens.
In der abschließenden Blitzlicht-Runde legen alle die für sie wichtigsten Erkenntnisse zusammen — und zwar ohne diese zu bewerten oder zu sortieren. „Der rote Faden ist meine Orientierung.“, „Die Frage nach dem roten Faden stellt sich nur in Krisen“, „Der rote Faden besteht aus vielen einzelnen Fäden.“, „Ich muss mich nicht permanent festhalten, ich habe die Freiheit.“, „Der rote Faden erschließt sich oft erst aus der
Rückschau.“
Als das letzte Sandkörnchen durch das Glas gelaufen ist, herrscht entspannte Stille. Gemeinsam haben die Teilnehmenden Antworten auf eine Frage des Lebens gesucht und Standpunkte entwickelt. Jeder und jede konnte dabei „eigene Wahrnehmungen hinterfragen, sich anderen mitteilen, zuhören, eigene Standpunkte finden und begründen“, bringt Gerlinde Krehn das Geschehen auf den Punkt. „Welche Ergebnisse oder Erkenntnisse die Teilnehmenden jeweils aus dem Gespräch für sich mitnehmen, reflektieren und entscheiden sie selbst“, so Krehn.
„Welche Ergebnisse oder Erkenntnisse die Teilnehmenden jeweils aus dem Gespräch für sich mitnehmen, reflektieren und entscheiden sie selbst.“
Genau das ist auch das Ziel eines philosophischen Gesprächs mit Kindern und Jugendlichen im Religionsunterricht. Dabei gehe es „nicht vordringlich darum, Theologie zu vermitteln, sondern um Denk-, Dialog- und Urteilsfähigkeit“, bestätigt Gerlinde Krehn. Von der moderierenden Lehrkraft erfordere das gleichwohl „Offenheit, Flexibilität, Toleranz und Wertschätzung“, fügt Thomas Riebel hinzu: „Die Lehrkraft begleitet die Schülerinnen und Schüler im Gesprächsprozess, ohne sie dabei in eine bestimmte Richtung zu lenken.“
Das offene Setting ist also für alle Beteiligten „eine Überraschungskiste, es kann alles dabei herauskommen“, so Riebel und Krehn unisono. „Doch wer sich auf das Philosophieren und Theologisieren einlässt, wird solche Gespräche als echte Bereicherung erleben!“ Mit genau diesem Gefühl haben übrigens auch die neun Lehrkräfte den Andersort Museum wieder verlassen. Das belegt zumindest die abschließende Rückmelderunde, bei der die Teilnehmenden das Gespräch nochmals gefühlsmäßig reflektieren und dem Ort eine unterstützende und bereichernde Wirkung zusprechen.