Die Zukunft ist bereits Gegenwart
Theorie und Praxis von KI in Schule und Religionsunterricht. Von Anja Legge
„Tiefgreifender als Feuer, Elektrizität oder alles, was wir in der Vergangenheit gemacht haben“ sei die Veränderung der Welt durch Künstliche Intelligenz (KI), so Google-Chef Sundar Pichai. Tatsächlich durchdringt KI schon heute alle Lebensbereiche und macht auch vor Schule und (Religions-) Unterricht nicht halt. Doch wie damit umgehen? Dieser Frage widmete sich im Februar 2024 ein Studientag der Abteilung Schule und Hochschule unter dem Titel „Mensch und Maschine“. 35 Religions-Lehrkräfte aller Schularten haben an der Veranstaltung im Würzburger Burkardushaus teilgenommen, um sich über Grundlagen zu informieren, ethische Dimensionen zu diskutieren und konkrete Einsatzbeispiele kennenzulernen. Neben Barbara Mack als Referentin für Religionsunterricht und Digitalität aus dem Schulreferat waren auch zwei renommierte Experten zu Gast: Prof. Dr. Frank Puppe, seit 1992 Lehrstuhlinhaber des Lehrstuhls für Künstliche Intelligenz und Wissenssysteme an der Universität Würzburg, sowie Prof. Dr. Johannes Heger, Lehrstuhlinhaber des Lehrstuhls für Religionspädagogik an der Universität Würzburg.
Perspektiven der Künstlichen Intelligenz
Dass KI nicht nur Zukunftsthema, sondern in vielen Bereichen bereits Alltagstechnologie ist, machte Prof. Dr. Frank Puppe deutlich. Das betrifft kommerziell erfolgreiche Anwendungen wie digitale Sprachassistenten, Gesichtserkennung sowie Text- und Bildgeneratoren ebenso wie Programme zur Betrugsentdeckung oder Schadensbeurteilung bei Banken und Versicherungen, Chatbots in E-Commerce und Service Support oder AugmentedReality-Anwendungen für die Reparatur komplexer technischer Geräte. Gerne übersehen wird dabei der Gesundheitsbereich: Schon heute können KI-gestützte Spezial-Anwendungen Röntgenbilder auf dem Niveau eines guten Radiologen interpretieren. Und: Die meistzitierte wissenschaftliche Publikation im Bereich KI war im Jahr 2022 ein biomedizinisches Programm zur dreidimensionalen Faltung einer DNA-Sequenz (Alpha Fold) – „der Gamechanger für die rasche Entwicklung eines Impfstoffes gegen Covid“.
Grundlagen der KI
Während man in der Anfangszeit Fachwissen nachbauen wollte, gehe es heute um den Bau künstlicher neuronaler Netze nach dem Modell des menschlichen Gehirns, informierte Puppe. „Wenn ein Mensch lernt, ändert sich die Stärke der Synapse, also die Verbindung zwischen den einzelnen Nervenzellen.“ Entsprechend „lernen“ künstliche neuronale Netze, indem mit Hilfe von Trainingsdaten die Datenweiterleitung zwischen den Neuronen gewichtet wird. Bei sehr großen Datenmengen, vielen Wiederholungen und einem dichten Neuronennetz, spricht man von Deep Learning.
Wie funktioniert Deep Learning?
Für das Training neuronaler Netze gibt es unterschiedliche Methoden. In der Sprachverarbeitung (z.B Chat GPT) kommen meist „Large Language Models“ zum Einsatz, bei denen das System nicht durch einzelne Wörter, sondern kontextbezogen trainiert wird. Die ausgeworfenen Ergebnisse fußen also auf einer wahrscheinlichkeitsbasierten Textvorhersage. Sequence Transformer, die Gesprochenes in Geschriebenes umwandeln oder in eine andere Sprache übersetzen, bedienen sich des „Attention-Mechanismus“, das heißt: Bestimmte Teile der Eingabe finden stärkere Beachtung als andere, Sprache wird nicht Wort für Wort betrachtet, sondern in ihrem Kontext. Auch die Bildverarbeitung arbeitet mit dem „Attention Mechanismus“ oder „Convolutional Neural Networks“; das heißt, die Bildbestandteile werden nicht gleichwertig behandelt, sondern die KI filtert bestimmte Merkmale heraus. Ein besonders spannendes Vorgehen ist das „Generative Adversial Network“, bei dem zwei Systeme gegeneinander antreten und einander beurteilen.
Wunderwerk Mensch
Wie weit die Leistungen neuronaler Netze dennoch hinter dem Menschen zurückbleiben, machte Puppe anhand des menschlichen Entscheidungsmechanismus deutlich. Der Psychologe Daniel Kahnemann hat schnelles und langsames Denken unterschieden: Schnelles Denken (System 1) funktioniert automatisch, ohne willentliche Steuerung und intuitiv. Langsames Denken (System 2) ist mit Nachdenken verbunden, aufmerksamkeitsgesteuert und wird als Handlungsmacht erlebt. Während System 1 immer mitläuft und Eindrücke und Emotionen generiert, wird System 2 willentlich aktiviert. Aktuell – so Puppe – seien gut trainierte neuronale Netze lediglich auf dem Niveau des schnellen Denkens; ein System, das eine willentliche Überwachung leistet, gebe es dagegen noch nicht. Grenzen gibt es auch im Bereich der Robotik: So seien Bewegen und Greifen sowie autonomes Fahren noch sehr schwierig, weil die Welt sehr komplex und voller unerwarteter Situationen ist.
Herausforderungen und Risiken
Weil KI-Technologie maßgeblich von Menge und Qualität der Trainingsdaten abhängt, sei die EU aufgrund strikter DatenschutzVorgaben gegenüber den USA oder China nicht wirklich wettbewerbsfähig, machte Frank Puppe klar. Dem steht der zuweilen gedankenlos offenherzige Umgang privater Nutzerinnen und Nutzer mit den eigenen Daten gegenüber. Zugleich habe KI mit berechtigten Zweifeln hinsichtlich Vertrauenswürdigkeit und Transparenz zu kämpfen. Schon jetzt sind Fake-Texte und -Bilder nur mit Mühe erkennbar, was wiederum eine zwingende Quellennennung erfordert. Im Hinblick auf Einspeisung und Kontrolle der Daten bestehe schließlich die Gefahr von Monopolisierung, Machtkonzentration und Demokratiegefährdung.
Potentiale von KI für die (religiöse) Bildung
Am Nachmittag beleuchtete Prof. Dr. Johannes Heger dann die „Potentiale von KI für die (religiöse) Bildung“. Schon jetzt beeinflussen KI-Tools unseren Lebensalltag massiv, wobei Medizin, Marketing, Handel, Bankwesen und Verwaltung dem Bildungsbereich dabei „um Längen voraus“ seien. Hinzu komme, dass viele Lehrkräfte dem Thema KI ablehnend gegenüberstehen, während Schülerinnen und Schüler Hilfsmittel wie Chat GPT bereits häufig nutzen, aber eben im Alleingang und ohne Anleitung.
KI, Bildung und Haltung Künstliche Intelligenz ist für Johannes Heger „nicht nur eine Technik, sondern ein Narrativ mit performativer Kraft“, das unterschiedliche Haltungen evoziert. Auf der einen Seite der Skala stehen Angst vor dem Fortschritt, Medienphobie und eine kritisch-materialistische Bewahr-Pädagogik, auf der anderen Seite Medienutopie und eine funktional systemorientierte Innovationspädagogik. Heger empfiehlt hier den Mittelweg des „kritischen Optimismus“, der Medienkritik mit Anwendungskompetenz kombiniert.
Bildung in einer Kultur der Digitalität
Weil wir bereits heute in einer „Kultur der Digitalität“ leben, bedeute Bildung, „den Menschen in der Welt und in der Kultur der Digitalität handlungsfähig zu machen“, so Johannes Heger. Für eine solche Bildung brauche es zwingend technisches Wissen über KI, praktisches Anwendungswissen sowie ethische Reflexion. KI sollte offensiv in den Lernprozess eingebracht werden und zwar nicht erst in Sekundarstufe 2, sondern in angepasster Form schon deutlich früher.
KI als technische Bereicherung
Ein verantwortungsvoller Einsatz von KI ist für Johannes Heger dort eine Bereicherung, wo Lern- und Lehrprozesse sowie Lern- und Lehrergebnisse bei geringem Risiko verbessert werden können. KI kann etwa bei der Binnendifferenzierung, der Diagnostik oder in der Schulverwaltung unterstützen. Denkbar seien Chatbots als Interaktionspartner, KI-Programme als Reflexionstool oder Hilfsmittel gegen Schreibblockaden. Eine besondere Chance sieht der Religionspädagoge im Bereich religiöser Dialog- und Urteilsfähigkeit. Um beispielsweise eine Diskussion rund um ethische Fragen anzuregen, könnten Schülerinnen und Schüler gegen einen Chatbot antreten. Zugleich sollte KI nicht nur gezielt im (Religions-)Unterricht eingesetzt werden, sondern auch zum Lerngegenstand werden, über den man gemeinsam reflektiert und diskutiert.
KI als Herausforderung
Laut der Handreichung des Deutschen Ethikrats „Mensch und Maschine – Herausforderungen durch KI“ ist Digitalisierung kein Selbstzweck, sondern sollte von grundlegenden Vorstellungen von Bildung geleitet sein. Tools, die einzelne Elemente des Lehr- und Lernprozesses ersetzen oder ergänzen, seien dabei weniger problematisch. Dass Lehrkräfte vollständig ersetzt werden, ist weder angestrebt noch sinnvoll. Lehrersein bedeute schließlich nicht nur Wissensvermittlung, sondern auch „Empathie, Gemeinschaft, Diskurs und Haptik“, betonte Johannes Heger.
Lehrkräfte als Vorbilder
„Lehrkräfte prägen mit Nichtaufnahme oder Aufnahme von KI in den Unterricht den Umgang ihrer Schülerinnen und Schüler mit“, so Johannes Heger. Er warb für eine kritisch-konstruktive Haltung und die persönliche Auseinandersetzung mit den verfügbaren Tools. Gerade weil Lehrkräfte Modelle eines reflektierten Umgangs mit Technik seien, ermunterte er dazu, KI nicht rundweg abzulehnen, sondern im Sinne von Sascha Lobo „mit voller Kraft zu umarmen“. Denn: „Die Zukunft ist bereits Gegenwart.“