Religionsunterricht als Begegnungsraum
Der Gegenstandsbereich Kirche und Gemeinde. Von Johannes Pfeiff.
Es gibt ehrlicherweise kaum einen Gegenstandsbereich, der in meinem Religionsunterricht auf weniger Begeisterung stößt, als Kirche und Gemeinde. Die Gründe dafür liegen – jedenfalls in meinen Klassen der Fachoberschule – auf der Hand: kein Gegenstandsbereich ist vom Titel her weiter entfernt von der Lebenswelt der Schüler*innen, keiner weckt unangenehmere Assoziationen: Kirche klingt in den Ohren der Schüler*innen nach Hexenverbrennung, Kreuzzügen und Kindesmissbrauch, Gemeinde – immerhin harmloser – nach Altennachmittag und sonntäglichem Frühaufstehen. Dies ist gleichwohl ein subjektives Schlaglicht und mag orts- und altersabhängig variieren.
Die Fachlehrpläne der unterschiedlichen Schularten finden aber einen klugen Umgang mit diesem markanten Malus. Die eingangs erwähnten Erwartungen der Schüler*innen werden beiläufig überspielt, wenn dort – mit altersbezogen zunehmender Tendenz – eben nicht verstaubt anmutende Sakramentenkatechese aufwartet, sondern der thematische Versuch unternommen wird, die Persönlichkeiten der Schüler*innen in den Mittelpunkt des Unterrichts zu stellen.
Schon in der Grundschule formuliert der LehrplanPlus das Ziel des Gegenstandsbereichs Kirche und Gemeinde entsprechend: „Der Religionsunterricht lädt zur Begegnung mit gläubigen Christen, mit Kirche und Pfarrgemeinde ein.“ Hier wird deutlich, was der Religionsunterricht leisten kann und was nicht: Er versteht sich als Einladung zur Begegnung, als Gelegenheit, Perspektiven zu öffnen, und als Raum, der eine fremde Realität erleben lässt. Kein Wort von Katechese oder Ministrantendienst. Überraschenderweise aber ehrlicherweise doch lebensnah – wird hier der Blick von außen auf die Gemeinde intendiert. Der Religionsunterricht ist durchaus ein corpus mixtum, aber doch kein verlängerter Kommunionunterricht. Schulklasse und Gemeinde sind nicht identisch. Vielmehr werden Gemeinde und Kirche selbst Gegenstand eines Unterrichts, der Begegnung mit ihnen ermöglicht.
Der Fachlehrplan des Gymnasiums ergänzt die obige Formulierung der Grundschule noch: „Der Religionsunterricht lädt zur Begegnung mit gläubigen Christinnen und Christen, mit Kirche und Pfarrgemeinde ein. Dadurch erleben die Schülerinnen und Schüler das Selbstverständnis der Kirche als Volk Gottes und verstehen Christsein als Impuls, einen eigenen Standpunkt zu beziehen.“ Die Begegnung mit gläubigen Christ*innen und der Gemeinde wird hier noch besonders qualifiziert: Sie ermöglicht das Erleben des Selbstverständnisses der Kirche als Volk Gottes. Bemerkenswerterweise verharrt die Zielformulierung hier wieder bei zurückhaltendem Vokabular. Was aus dem Erleben folgen soll, bleibt zunächst offen, wird zurück in den Unterricht und in die Lebenswelt der Schüler*innen gegeben. Das Erleben ist offen für individuelles Anknüpfen, fordert aber nichts.
Und darin verbirgt sich auch das große – und wohl auch verkannte – Potenzial dieses Gegenstandsbereichs: Wenn Kirche als Volk Gottes erfahrbar wird, dann werden allzu platte, ahistorische und verkürzende Despektionen, wie der oben genannte Zweiklang aus Hexenverbrennung und Kreuzzug, nicht gleich obsolet, aber doch relativiert, in Beziehung zum Menschsein gesetzt. Diese neu entdeckte Relativität des Gegenstandsbereichs lässt erahnen, dass die Kirche nicht einfach ferne oder entfremdete, vergessene oder verstörende Institution ist, sondern vor allem die Summe von wandernden, suchenden, irrenden, murrenden, hoffenden und getragen bleibenden Menschen, die eine Erfahrung mit Gott machen und die sich deshalb auf einem Weg befinden.
Der Fachlehrplan verlängert diese Perspektive in einem Zweiten: Christsein selbst wird als Impuls aufgefasst, einen eigenen Standpunkt zu beziehen. Christsein ist hier im besten Sinne Bekenntnis, ein eher innerliches, denn äußerliches Geschehen. Konträr zur eingangs formulierten Erwartungshaltung werden leise Assoziationen zum reformatorischen sola fide geweckt. Anknüpfend an ein zunehmend selbstbestimmtes, aber auch skeptisches, überlastetes und zuweilen indifferentes Selbstbewusstsein einer krisengeprüften jungen Generation holt die hier formulierte Individualisierung einer institutionellen Frage die Schüler*innen dort ab, wo sie stehen. Im Unterrichtsgeschehen wird auf diese Weise deutlich, welchen ekklesiologischen Gehalt die Rede vom Volk Gottes konkret besitzt: Die Relevanz des institutionellen Anspruchs steht und fällt mit der Relevanz des Themas für die Persönlichkeit der Schüler*innen.