Lehrerhandeln im kompetenzorientieren Religionsunterricht
Von Boris Kalbheim
1. Vorgaben für die Lehrtätigkeit: Prozessorientierte Kompetenzen
Der gegenwärtige Lehrplan der bayerischen Schule ist kompetenzorientiert aufgebaut. Er bestimmt dasjenige, was Schülerinnen und Schüler erreichen sollen, in Form von allgemeinen Kompetenzen. Der Begriff Kompetenz bezeichnet nach diesen Vorgaben ein Konstrukt aus Kenntnissen, Fertigkeiten und Haltungen, die sechs prozessorientieren Kompetenzen aus dem Fachprofil kath. Religionslehre lauten: Wahrnehmen, verstehen, urteilen, gestalten, kommunizieren und teilhaben. Als Kompetenzen gelesen meinen diese Worte mehr als einfache Handlungen; man kann sie als Handlungsformationen bezeichnen, denn sie umfassen konkrete Handlungen und gleichzeitig abstrakte Perspektiven. Die Kompetenz Wahrnehmen etwa ist unmittelbar verständlich, denn von Wahrnehmen spricht man auch in der Alltagssprache: Schülerinnen und Schüler nehmen ein Bild wahr. Andererseits meint Wahrnehmen als Kompetenz mehr als einen Sinneseindruck: Schülerinnen und Schüler nehmen die Herkunft der Psalmen aus dem Alten Testament wahr. Ebenso wie die Kompetenz Wahrnehmen sind auch die anderen Kompetenzen mehrdeutig gemeint, daher bezeichnen sie auch mehr als eine Handlung, sondern Handlungsformationen.
Eine Folge dieser Kompetenzorientierung lautet: Der Lehrplan verzichtet weitgehend auf konkrete Angaben wie Lehrkräfte handeln sollen; er nennt kaum konkrete Ziele und Wege. Es ist die Aufgabe der Didaktik zu bestimmen, wie Lehrkräfte konkret handeln, um die Kompetenzen zu erreichen: Durch welche Handlungen können Lehrkräfte diese Kompetenzen initiieren, unterstützen und vertiefen?
Um diese angestrebten Kompetenzen zu initiieren, zu unterstützen und zu vertiefen, müssen die Lehrkräfte Handlungsformationen verfolgen, die zu diesen Kompetenzen kongruent sind. Solche kongruenten Handlungsformationen sollen hier mit Hilfe einer semantischen Reflexion der einzelnen prozessorientierten Kompetenzen bestimmt werden. Dabei wird erkennbar, dass jede dieser Handlungsformationen Grenzen oder Schattenseiten haben: Indem die Lehrkraft diese Handlungsformation verfolgt, zieht sie immer eine Grenze, und diese Einschränkung ist nicht zu vermeiden. Sie gehören vielmehr zur Reflexion des Lehrerhandelns dazu, und so entsteht eine weitere Perspektive auf den Unterricht, die die Lehrtätigkeit weiterentwickeln kann.
2. Kompetenzen und Handlungsformationen
Mit einer semantischen Reflexion kann von der Grundbedeutung der einzelnen Bezeichnungen für die prozessorientierten Kompetenzen auf kongruente Handlungsformationen der Lehrkraft geschlossen werden: Zum Wahrnehmen gehört das Zeigen, zum Verstehen das Erklären. Urteile von Lernenden bedürfen einer Ermöglichung von Schülerurteilen durch die Lehrenden, Gestaltung braucht einen Raum, in dem gestaltet werden kann. Lernende entwickeln die Kompetenz der Kommunikation dadurch, dass Lehrende sie anleiten, und die Kompetenz der Teilhabe beruht auf eine Handlungsformation, die Gemeinschaft eröffnet.
Im Folgenden sollen diese Paare von Handlungsformationen näher beschrieben werden; dabei werden die Kenntnisse, Fertigkeiten und Haltungen der einzelnen Handlungsformationen deutlichen und auch die jeweiligen Grenzen oder Schattenseiten.
Wahrnehmen und Zeigen
Eine Wahrnehmung ist ein bewusster Sinneseindruck, und so wird die Kompetenz auch im Fachprofil bezeichnet. Für jeden Unterricht ist Wahrnehmung das Fundament, und gerade weil zur Wahrnehmung ein Bewusstsein gehört, verlangt es eine komplementäre Handlungsformation der Lehrkraft: Das Zeigen. Die Lehrkraft zeigt den Schülerinnen und Schülern einen Ausschnitt der Welt, etwa, indem sie ein Bild vorlegt. Über eine solche Vorlage hinaus gehört zum Zeigen auch die Benennung, zum Beispiel mit dem Satz: „Auf diesem Bild sehr Ihr das Leere Grab.“ Bei einer Bildbeschreibung regt die Lehrkraft die Lernenden dazu an, das zu benennen, was sie sehen, die Lehrkraft kann motivierend und unterstützend intervenieren, damit die Schülerinnen und Schüler auch diejenigen Kenntnisse erlangen, die zum Verständnis im Unterricht nötig sind. Die Lehrkraft benennt dazu dasjenige, was für die Schüler unbekannt ist. Diese Unterscheidung von Bekanntem und Unbekanntem führt zum Aspekt der Fertigkeit innerhalb der Kompetenz des Wahrnehmens: Die Fertigkeit, Bekanntes zu benennen und Unbekanntes zu erfragen. Beides, die Benennung des Bekannten und die Frage nach dem Unbekannten muss geschult werden, damit aus Sinneseindrücken auch bewusste Wahrnehmungen werden. Getragen wird diese Fertigkeit von einer Haltung, die Neuem gegenüber aufgeschlossen ist, einer Haltung des Interesses und der Neugier gegenüber der Umgebung.
Die Schattenseite des Zeigens ist das Verbergen. Indem die Lehrkraft etwas zeigt, wird etwas Anderes verborgen. Bilder etwa zeigen nur einen Ausschnitt der Welt, und indem die Lehrkraft ein bestimmtes Bild auswählt und den Schülerinnen und Schülern zeigt, verbirgt sie alles, was um diesen Ausschnitt herum zu entdecken wäre. In der Auswahl von Bildern und Texten entwickelt die Lehrkraft dasjenige, was sie den Lernenden zeigt, und gleichzeitig dasjenige, was sie vor den Lernenden verbirgt, und je genauer die Wahrnehmung sich einem Thema zuwendet, desto mehr muss den Schülern von der Welt verborgen bleiben.
Verstehen und Erklären
In der Alltagssprache bedeutet Verstehen, Einsicht zu finden in die Zusammenhänge, die den Menschen umgeben. Als prozessorientierte Kompetenz im kath. Religionsunterricht bedeutet Verstehen: Die Lernenden finden Sinn in ihrer Umgebung. Wie die Wahrnehmung ist das Verstehen ein zutiefst menschlicher Vorgang, jeder Mensch versucht, das Wahrgenommene zu verstehen und in das eigene Bewusstsein einzuordnen. Damit die Kenntnisse der Schülerinnen und Schüler sich im Hinblick auf das Verstehen entwickeln, bietet die Lehrkraft zunächst Erklärungen an, darüber hinaus leitet sie die Lernenden dazu an, selbst Erklärungen zu entwickeln und zu erproben. Diese Fähigkeit, Erklärungen zu entwickeln und zu erproben beruht auf der Freiheit der Lernenden: Schülerinnen und Schüler entwickeln ihr Verständnis der Umgebung aufgrund einer Haltung der Freiheit.
Erklärungen sind immer auch Bestimmungen: Etwas ist so, weil es jene Gründe dafür gibt. Indem die Lehrkraft den Lernenden etwas erklärt, bestimmt sie für die Lernenden das Verstehen der Welt. Ob die Lehrkraft das Leere Grab zum Beispiel als empirische Tatsache oder als Symbol erklärt, das bestimmt das Verständnis von der Auferstehung durch die Schüler. Die Lehrkraft legt ihre Erklärung den Lernenden vor, und da sie gute Gründe für ihre Erklärung hat, wird sie von den Lernenden verlangen können, ihre Erklärung zu übernehmen. Dies ist die Schattenseite jeder Erklärung, die die Lehrkraft vorlegt. Die Lehrkraft schreibt mit ihren Erklärungen den Lernenden etwas vor und bestimmt damit über sie.
Eine weitere Grenze von Erklärungen ist deren Vorläufigkeit. Jede Erklärung kann sich als überholt erweisen, wenn neue Wahrnehmungen gemacht werden. In der Physik ist diese Vorläufigkeit der Erklärung bekannt; aber auch im Bereich der Religion sind Erklärungen vorläufig, denn die Lernenden verändern sich, körperlich und seelisch: In jüngeren Jahren kann die Vorstellung von Gott als dem Vater die Lernenden in ihrer Selbstständigkeit unterstützen, mit der Entwicklung zum erwachsenen Leben muss diese Vorstellung sich jedoch verändern, und damit müssen sich die Erklärungen verändern. Auch die Wundergeschichten Jesu verlangen unterschiedliche Erklärungen, je nach Alter der Lernenden.
Verstehen steht stets in einer Spannung von Vorgaben und Vorläufigkeit, einerseits bieten die Lehrenden den Lernenden Erklärungen mit dem Gestus der Vollständigkeit an, andererseits bleiben Erklärungen in der Religion entwicklungsbedingt vorläufig.
Urteilen und Urteile ermöglichen
Im Urteil verbindet der Mensch seine Erfahrung mit einer Norm. Gleichzeitig entwickeln sich die menschlichen Normen und ihre Bedeutung, indem der Mensch sich die Welt erschließt. Ein Urteil muss auf adäquaten Gründen beruhen, das heißt, es muss verständlich und einsichtig sein. Ziel der Kompetenz Urteilen ist es, eigene Urteile zu fällen und zu verantworten.
Im Rahmen von Unterricht orientieren sich die Schülerinnen und Schüler zunächst an den Urteilen der Lehrkraft, sie lernen die Gründe für deren Urteile kennen und entwickeln die Möglichkeit, eigene Urteile zu fällen. Am Beispiel des Leeren Grabes etwas können Lernende eingeladen werden, die Geschichte vom Leeren Grab als symbolisch oder empirisch zu beurteilen. Im Schulunterricht wird dabei oft Wert daraufgelegt, Gründe für die eigenen Urteile zu nennen; so entstehen die Urteile der Lernenden in Auseinandersetzung mit den Urteilen der Lehrkraft. Solche Auseinandersetzungen sind möglich auf Grundlage einer toleranten Haltung, wobei Toleranz notwendig beinhaltet, ein eigenes Urteil gefällt zu haben. Diese Toleranz fordert heraus: Wer sein eigenes, gut begründetes Urteil fällt, für den ist es schwer einzusehen und zu akzeptieren, dass ein Anderer ein anderes, ebenfalls gut begründetes Urteil fällt. Hier sind Akzeptanz und Augenmaß gefordert.
Schülerinnen und Schüler sollen urteilen, das heißt, sie sollen sich wertend zu ihrer Umgebung verhalten. Ein Urteil zu fällen, das heißt auch, Verantwortung zu übernehmen. Gerade im Religionsunterricht wird einerseits die Kompetenz des Urteilens angestrebt, andererseits wird die Divergenz von Urteilen innerhalb einer Lerngruppe gutgeheißen, und darin liegt die Schattenseite der Handlungsformation: die Gefahr, die Urteile zu entwerten. Wenn alle Urteile gültig sind, dann ist jedes Urteil tatsächlich gleichgültig. Oder an einem Beispiel: Wenn das Leere Grab sowohl als symbolische Geschichte wie als empirische Geschichte beurteilt werden kann, welche Bedeutung kommt diesem Urteil dann zu?
Konkret lässt sich diese Schattenseite an der Leistungsbewertung erkennen. Im gegenwärtigen Religionsunterricht gilt es als ungerecht, richtige und falsche Urteile zu unterscheiden und nach der Maßgabe von Richtig und Falsch zu bewerten. Es wird Wert daraufgelegt, dass der Muslim sein Leben nach muslimischen Regeln bewerten kann, und die Christin ihr Leben nach christlichen Regeln. Doch wenn kein Unterschied besteht zwischen christlichem oder muslimischem Leben – wie soll da ein Urteil darüber bedeutsam sein?
Gestalten und der Gestaltung Raum geben
Gestalten meint die Fähigkeit, das Eigene mitzuteilen. In der Gestaltung wird die eigene Beziehung zur Umgebung so organisiert, dass sie für andere erkennbar wird, es ist eine Äußerung der Schülerinnen und Schüler. Solchen Äußerungen gibt die Lehrkraft Raum: Raum, in dem sich die persönliche Gestaltung entwickeln kann. Persönliche Gestaltung setzt wiederum die Kenntnis voraus, wie Gestaltung möglich ist, welche Formen des Ausdrucks bestehen und wie man die richtige Form des Ausdrucks wählt. Für die Lehrkraft bedeutet dieser Aspekt der Kompetenz Gestalten, dass sie ihre eigenen Kenntnisse über Gestaltung reflektieren und erweitern sollte, denn nur wenn die Schülerinnen und Schüler verschiedene Möglichkeiten der Gestaltung kennen, können sie sich authentisch ausdrücken, das heißt ihre eigene Gestaltung vornehmen.
Indem die Lehrkräfte der Gestaltung durch die Schülerinnen und Schüler Raum geben, erlangen diese die Fähigkeit, ihre Gestaltung eigenständig zu planen und zu vollziehen; sie erfahren sich als selbsttätig. Dazu gehört die Haltung, sich ausdrücken zu wollen, das heißt das Interesse, dem Eigenen eine äußere Form zu geben, das Vertrauen, dass dieser Ausdruck gelingt, und die Zuversicht, dass die eigene Gestaltung eine Bedeutung hat. In Bezug auf die Glaubenswahrheit des Leeren Grabes bedeutet Gestaltung etwa die Überlegung, wie Leere sichtbar werden kann: Wie kann man Leere künstlerisch gestalten?
Gestalten ist ein individueller Vorgang, diese Individualität markiert auch die Grenze jeder Handlung, mit der die Lehrkraft den Lernenden einen Raum eröffnet: Indem die Lehrkraft einen Gestaltungsraum eröffnet, lässt sie die Lernenden auch allein. Die Lehrkraft verlangt von den Lernenden, selbst zu gestalten, und indem die Lehrkraft den Lernenden Raum gibt, entwickelt sich auch ein Abstand zwischen Lernenden und Lehrenden. Die Schattenseite der Handlungsformation Gestaltung Raum geben ist somit dieses Alleine lassen der Schülerinnen und Schüler. Konkret wird diese Schattenseite etwa bei dem Arbeitsauftrag „Nimm Stellung zur Bedeutung des Leeren Grabes für den Glauben.“ Es wird in diesem Arbeitsauftrag ein Raum eröffnet, doch die Schüler müssen zunächst herausfinden, wie diese Stellungnahme aussehen soll. Oft genug wird dieser Raum dadurch besetzt, dass Lernende sich fragen: „Was will die Lehrkraft hören?“ Wenn zum Beispiel der genannte Arbeitsauftrag mit Schreiblinien kombiniert wird, werden die Lernenden eher eine schriftliche Stellungnahme abfassen, doch ist das die einzige Möglichkeit der Gestaltung? Diese Frage soll hier offenbleiben, denn sie zeigt die Bedeutung dieser Schattenseite des Lehrerhandelns.
Kommunizieren und Kommunikation leiten
Im Unterschied zum Gestalten ist Kommunizieren eine soziale Tätigkeit: Kommunikation bedeutet die Kompetenz, sich gegenseitig über und mit dem eigenen Ausdruck austauschen. Kommunikation verbindet die Menschen miteinander, die Lernenden mit den Lehrenden sowie mit anderen Lernenden. Das zentrale Beispiel des Kommunizierens ist die Diskussion. Eine Diskussion ist nur dann möglich, wenn die Schülerinnen und Schüler die Möglichkeiten und Voraussetzungen einer Diskussion kennen, etwa die gegenseitige Achtung. Lernende entwickeln in diesem Zusammenhang die Fähigkeit, regelgeleitet zu kommunizieren, einander zuzuhören, die richtigen Worte zu verwenden etc. Nur eine solche regelgeleitete Kommunikation begründet tragende Beziehungen, wobei die Kommunikationsregeln in einer Diskussion andere sind als etwa bei einem Spiel. Diese Fertigkeiten beruhen auch einer Haltung der Offenheit gegenüber den Anderen einher, eine Offenheit, die auch Konfliktfähigkeit umfasst.
Kommunikationsregeln sind auch die Schattenseite der Kompetenz Kommunizieren: Sie sind notwendig, aber auch einengend; sie bereiten den Boden für gelungene Kommunikation, können aber auch zur Kommunikation nötigen. Plastisch wird diese Nötigung, wenn die Lehrkraft einen konkreten Schüler aufruft: „Thomas, was bedeutet die Geschichte vom Leeren Grab?“ Auf diese Frage muss Thomas antworten, und zwar nach Regeln, die der aktuellen Situation angemessen sind. Es wäre vermessen, wenn Thomas nur mit den Schultern zuckt, obwohl eine solche Geste genaugenommen schon eine Kommunikation darstellt. An diesem Beispiel wird deutlich: Kommunikationsleitung ist notwendig, doch sie geht immer mit der Einengung von Kommunikation einher.
Teilhaben und Gemeinschaft eröffnen
Teilhaben bedeutet nach dem Fachprofil ein verantwortliches Handeln für sich und andere. Handeln begründet Gemeinschaft und erhält Gemeinschaft am Leben, und in Verbindung mit der Verantwortung hat Handeln einen ethischen Aspekt. Nach dem Fachprofil geht es darum, dass sich Schülerinnen und Schüler die Gemeinschaft annehmen und an deren Entwicklung teilnehmen. Dazu müssen die Lernenden erkennen, zu welcher Gemeinschaft sie gehören, sie müssen Kenntnisse über die Ziele und die Bedeutung dieser Gemeinschaft erlangen. Die Fertigkeit in dieser Kompetenz besteht darin, sich adäquat, selbstständig und ethisch orientiert in der Gemeinschaft zu bewegen; als Haltung besagt diese Kompetenz die Motivation, sich an der Gemeinschaft zu beteiligen.
Teilhabe ist für Lernende dann möglich, wenn die Lehrkraft Gemeinschaft begründet. Durch das Lehrerhandeln wird aus einer Gruppe von Kindern die Religionsklasse, und erst wenn diese Gruppe begründet ist, dann ist Teilhabe möglich. Um eine Gruppe zu begründen, muss diese Gruppe Kontur erhalten, das heißt: Es müssen Grenzen gezogen werden.
Diese Grenzziehung ist die Schattenseite, wenn Lehrkräfte Gemeinschaft eröffnen. Wird eine Klasse als Gemeinschaft konstituiert, dann sind die Grenzen ganz sinnlich erkennbar, durch die Wände des Klassenraumes. Diejenigen, die in der Klasse sind, sind anwesend, die anderen außerhalb des Klassenraumes sind von der Gruppe ausgeschlossen. Eine solche Grenzziehung ist unumgänglich: Grenzen zwischen Kindern innerhalb und außerhalb der Klasse, innerhalb und außerhalb der Schule, innerhalb und außerhalb der Gemeinde. Damit ist nicht notwendigerweise eine Abkapselung der Gruppe gemeint, doch eine Gruppe ohne Grenzen ist keine Gruppe und kann daher keine Teilnahme ermöglichen.
3. Grundlagen des Lehrerhandelns: Die Kompetenz Selbstreflexion
Die semantische Analyse der prozessorientierten Kompetenzen hat gezeigt: Es besteht ein notwendiger Zusammenhang zwischen den Kompetenzen der Schüler und den Handlungsformationen der Lehrkraft, gleichzeitig ist dieses Handeln der Lehrkraft immer mit einer Schattenseite verbunden. Erklären ohne bestimmen ist nicht möglich, Gemeinschaft kann nicht ohne Grenzziehung begründet werden. Die Arbeit von Lehrerinnen und Lehrern muss gleichzeitig diese Handlungsformationen verfolgen und deren Schattenseiten reflektieren; schlagwortartig kann man diese Aufgabe folgendermaßen formulieren: Zeigen, ohne das Verborgene zu unterdrücken; erklären, ohne das selbstständige Denken auszuschließen; Urteile ermöglichen und sie ernst nehmen; der Gestaltung Raum geben und die Lernenden in ihrem Gestalten unterstützen, Kommunikation transparent leiten und Gemeinschaft einladend begründen.
Das hat Folgen für die allgemeinen Kompetenzen der Lehrkraft. Neben personaler und fachlicher Kompetenz ist es notwendig, dass Lehrende eine spezifische Kompetenz entwickeln, die Kompetenz, das eigene Handeln zu reflektieren. Eine solche Reflexion ist ethisch; sie bedarf der Kenntnisse dessen, was tatsächlich getan worden ist, sowie der Fähigkeit, an sein Handeln Maßstäbe anzulegen. Diese Kompetenz wird getragen von einer selbstkritischen Haltung, die Maßstäbe für diese Selbstreflexion sind Sachgerechtigkeit, Lebensstärkung und Mitmenschlichkeit.
Sachgerechtigkeit orientiert das Handeln der Lehrkraft an den Lehrgegenständen: Biblische Geschichten haben einen Eigenwert, moralische Regeln sind nicht beliebig und jede sachliche Aussage hat eigenständige Bedeutung. Diesen Eigenwert adäquat aufzunehmen ist ein Aspekt der Selbstreflexion der Lehrkraft.
Der Maßstab Lebensstärkung bestimmt über die Nachhaltigkeit des Unterrichtes. Unterricht ist ein Ort, an dem die Lernenden Rüstzeug für ihr eigenes Leben erhalten. In der Selbstreflexion nach Maßgabe der Lebensstärkung betrachtet die Lehrkraft ihr eigenes Handeln in Bezug auf das Leben der Lernenden. Gerade im Religionsunterricht geht es um das Ganze des Lebens, und die einzelnen Kompetenzen erwerben die Schülerinnen und Schüler, um ihr Leben zu gewinnen.
Der Maßstab Mitmenschlichkeit betrachtet das Lernen von Menschen in ihren sozialen Bezügen. Im Kontext Schule sind die Beziehungen zwischen Lehrenden und Lernenden besonders bedeutsam: Durch das Handeln der Lehrkraft kann die Lerngruppe gestärkt oder geschwächt werden. Ziel des Unterrichtes sind gestärkte, lebenstüchtige Kinder und Jugendliche.
Diese Maßstäbe sind abstrakt formuliert, sie können jedoch direkt auf das konkrete Handeln angewandt werden, zum Beispiel auf die Bedeutung der Geschichte vom Leeren Grab. Als theologische Aussage aus den Evangelien hat sie einen eigenen Wert, sie steht in Verbindung mit den Erscheinungsgeschichten. Die Geschichte fordert den Gläubigen heraus, und es stellt sich für die Lehrkraft die Frage, wo die Unterschiede zwischen einer symbolischen und einer empirischen Lesart dieser Geschichte zu finden sind: Welche Lesart stärkt das Leben der Schülerinnen und Schüler, wie können Lernende zu einem Urteil finden, dass in ihrem Leben bedeutsam werden kann, und wie können die Schülerinnen und Schüler erkennen, was sie als Kinder und Jugendliche der Gegenwart mit den Personen der Geschichte vom Leeren Grab (Maria Magdalena, Petrus, Johannes) zu tun haben.
Mit dieser semantischen Analyse sind Handlungen von Lehrern und Lehrerinnen beschrieben worden, die direkt in Verbindung mit den prozessorientierten Kompetenzen stehen, Diese abstrakte Darstellung kann und soll von jedem Lehrer, jeder Lehrerin individuell in konkrete Handlungen umgesetzt werden, in Aufgaben und Fragen, in Material und Bewertung.