Schulpastoral und Spiritualität

Schulpastoral und Sozialraumorientierung

Ein neues Schlagwort angesichts kirchlicher Veränderungsprozesse. Von Angela Kaupp.

Nach einer Unterscheidung zwischen Ort und Raum (1) wird in diesem Beitrag das Konzept der Sozialraumorientierung vorgestellt (2). Dieses Konzept stellt neue Herausforderungen an Kirche und Schule (3), ist aber gerade an kirchliche Arbeitsfelder wie die Schulpastoral anschlussfähig (4).

1. Zur Differenzierung zwischen Ort und Raum

In sozial- und kulturwissenschaftlichen Theorien wird zwischen „Ort“ und „Raum“ unterschieden. Ort „bezeichnet einen Platz, eine Stelle […] meist geographisch markiert“ (Löw 2001, 199); Räume sind dagegen Konstitutionsprozesse, die an einem Ort stattfinden können, aber nicht notwendig an einen Ort gebunden sind, wie z. B. das Internet zeigt.

Die folgenden Überlegungen unterscheiden zwischen Raum als dreidimensionalem Koordinatensystem und als Sozialraum:

Der Raum als ein wahrnehmbares, dreidimensionales Koordinatensystem wird durch die materiellen Güter und den Abstand zwischen ihnen bestimmt. Unter dieser Perspektive werden Fragen der Architektur und materieller Raumgestaltung diskutiert. Es wird untersucht, welche Gestaltungsformen für bestimmte Zielgruppen förderlich oder hinderlich sind. Ein kompliziertes Unterfangen, da Räume – auch Kirchen z. B. – von Menschen unterschiedlich erlebt werden. Die Bedeutung z. B. von Material oder Farben weist darauf hin, dass nicht nur der mathematische Raum entscheidend ist.

Sozialraum bezeichnet einen Raum, der durch subjektiven Sinn, Aneignungsprozesse und symbolische Ordnungen der Gesellschaft entsteht. „Spacing“ wird der Prozess genannt, durch den soziale Güter und Lebewesen entsprechend platziert und durch symbolische Markierungen, Ensembles von Gütern und Menschen als solche identifizierbar werden (zum Beispiel durch Ortseingangs- und -ausgangsschilder) (vgl. Löw 2001, 158–166). Ein konkreter Ort wird zu einem symbolischen Raum aufgrund der Bedeutung, mit der er aufgeladen wird. Dies führt durch die Verbindung mit ökonomischen Werten zu entsprechenden Distinktionen aufgrund von Ein- und Ausschließungsprozessen. Diese Symbolisierungen sind teilweise allgemein-anthropologisch begründbar, sie unterliegen jedoch gleichermaßen kulturellen Codes und deren Transformationsprozessen.

Es ist offensichtlich, dass Schule und Kirche auf beiden Ebenen Räume sind, die vielen Ein- und Ausschlusskriterien unterworfen sind. Sie schaffen Räume, die Menschen einladen oder auch ausgrenzen, die Beziehungen ermöglichen oder auch einschränken.

2. Das Konzept der Sozialraumorientierung

Das Konzept der Sozialraumorientierung wurde seit Anfang der 1990er Jahre in Sozialarbeit und Jugendarbeit entwickelt (vgl. Bingel 2011; Hinte 2014; Noack 2015). Seit Kurzen kommt es auch im Kontext von Kirche bzw. Gemeinde in der Stadt zur Sprache. Überlegungen zur „Kirche im Quartier“ – so der Titel einer aktuellen Publikation (Lämmlin und Wegner 2020) – gehen von einer stärkeren Kooperation der kirchlichen Akteure mit den im Quartier vorhandenen sozialen und kommunalen Partnerinnen und Partner aus.

Wichtiger als der Ort an sich sind die Menschen, die hier leben. Sozialraumorientierung versteht Raum „als eine auf andere Menschen bezogene Tätigkeit. Raum entsteht durch Beziehungen. Der Stadtteil, in dem man zuhause ist, entsteht durch die Kontakte und Bindungen, die man dort hat. […] Der Fokus der Sozialraumorientierung ist die Relation“ (Früchtel 2014, 6). Dieses Verständnis korreliert auch mit der aktuellen Diskussion des „spatial turn“ (vgl. Döring und Thielmann 2008; Günzel 2009).

Mit Blick auf den Lebenskontext von Menschen kann zwischen Lebenswelt und Sozialraum unterschieden werden: „Die räumliche Dimension individueller Lebenswelten kann sich über unterschiedliche geografisch bestimmbare Orte erstrecken“ (Noack 2015, 77), die sich jedoch nicht mit dem Sozialraum decken, wie Abbildung 1 verdeutlicht. Kirchengemeinden sind ein Element des Sozialraums, können jedoch in der Lebenswelt des Einzelnen mehr oder weniger Bedeutung haben. Die Schule gehört zur Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen. Während Grundschulen oft im Sozialraum der Kinder liegen, sind weiterführende Schulen oft an einem anderen Ort.

Im Unterschied zu Angebots- oder Bedürfnisorientierung hat Sozialraumorientierung das Ziel, zusammen mit den Adressaten Lebenswelten zu gestalten und die Eingebundenheit des Einzelnen in einem bestimmten Kontext aufzugreifen. Dem „Fachkonzept Sozialraumorientierung“ liegen folgende Prinzipien zugrunde (vgl. Hinte 2014; Hinte 2020; Wössner 2020, 7 – 16):

  •  Ausgangspunkt sind der Wille und die Interesseder Menschen

„Der Wille bewegt die Menschen – wer dagegen Wünsche erfüllt, stärkt Bedürftigkeit“ (Hinte 2020, 44). Der Wille wird als Kraftquelle für Aktivität gesehen, eine Wunschhaltung dagegen als Zeichen mangelnder Eigenaktivität, da die Erfüllung von anderen erwartet wird. Das Konzept versucht daher, den Willen der Menschen im Sozialraum zu erheben und damit zu arbeiten, auch wenn natürlich geprüft werden muss, ob der Wille im Blick auf die Realität und die zugrundeliegenden Werte zielführend ist.

  •  Aktivierende Arbeit hat Vorrang vor betreuender Arbeit

Ziel ist die Selbstermächtigung der Menschen und eine möglichst große Unabhängigkeit von einer Betreuung durch professionelle Helfer/innen. Professionelle sollen vor allem die Eigenaktivität ihrer Adressat/innen fördern und „einen Raum für Austausch schaffen und dadurch Partizipation […] ermöglichen“ (Dethloff 2020, 57).

  •  Personale und sozialräumliche Ressourcespielen eine wesentliche Rolle

Es geht darum, die Ressourcen der Einzelnen und des Sozialraums zu erschließen. Ressourcen sind sowohl (Geld-)Mittel und Strukturen des Sozialraums als auch Eigenschaften oder Fähigkeiten von Personen, die diese selbst oder andere nutzen können, um Leben zu bewältigen oder (besser) zu gestalten. Hinte verweist darauf, dass der Sozialraum auch Ressourcen definiert: „Menschen haben Eigenschaften: Schwächen und Stärken werden durch den Kontext definiert“ (2020, 47).

  •  Aktivitäten sind zielgruppen- unbereichsübergreifend angelegt

Es geht darum, dass Professionelle nicht nur aus der eigenen Fachperspektive mit Menschen arbeiten. Das Fachkonzept Sozialraumorientierung „verlangt den einzelnen Fachdiensten und Expert/innen ab, die genannten Grenzen zu erkennen, sie zu überwinden und sich gemeinsam an Lösungen zu beteiligen, die der Komplexität von sozialen Problemen und der Lebenswirklichkeit von Menschen entsprechen“ (Wössner 2020, 13).

  •  Vernetzung und Integration über Einzelfeldesind wesentlich

Vernetzung und Integration ermöglichen ein umfassenderes Arbeiten und Verbessern des Sozialraums. Kirchliches Handeln, das auf eine Kooperation mit anderen Partnern/innen im Sozialraum zielt, verbindet die eigenen Ressourcen mit denen verschiedener Partner/innen.

Foto: Jens Junge auf Pixabay

3. Schule, Kirche und Sozialraumorientierung

Das Bild vom Trampelpfad symbolisiert, was Sozialraumorientierung impliziert: Menschen lassen sich nicht immer von vorgegebenen Wegen leiten, sondern sie schaffen sich aufgrund ihrer Interessen und Ziele auch eigene Wege. Andere Wege entstehen – oft zum Verdruss der Wegplaner. Dieses Beispiel verdeutlicht, dass das Prinzip der Sozialraumorientierung ein deutliches Umdenken im schulischen und kirchlichen Handeln erfordert. Denn kirchliches und schulisches Handeln haben oft das Ziel, Menschen auf den eigenen Weg mitzunehmen und sie in bestehende Strukturen und Vergemeinschaftungen einzubinden. Auch das schulische Leistungsprinzip steht oft im Widerspruch zu den Interessen und Ressourcen der Kinder und Jugendlichen.

Grundsätzlich ist das Konzept jedoch mit der christlichen Botschaft kompatibel, da beide das Ziel haben, die Lebensbedingungen der Menschen zu verbessern. Wenn Menschen dazu ermutigt werden, zu entscheiden, was für sie wichtig sind und wie sie ihren Glauben im Alltag umsetzen wollen, nimmt dies theologisch die Bedeutung des Subjekts mit seiner/ihrer Lebensgeschichte ernst (vgl. Kaupp 2016a).

 Sozialraumorientierung verlangt also mehr als nur Kontakt mit den Menschen aufzunehmen, die im Nahraum leben oder zu prüfen, mit welchen Institutionen Kooperationen möglich sind. Es geht darum, die Interessen der Menschen und ihre Ressourcen ernst zu nehmen und zu nutzen. Ziel ist es, durch das Miteinander (neue) Räume der Gemeinschaft entstehen zu lassen, in denen die Interessen und Ressourcen der Mitglieder von Bedeutung sind. Aufgrund der Heterogenität der Menschen impliziert Sozialraumorientierung, dass kirchliches Handeln die Entstehung verschiedenartiger und auch ungewohnter (Glaubens-)Räume unterstützt. Das kann nur gelingen, wenn es Freiräume gibt, die von den Betroffenen selbstbestimmt gestaltet werden können.

4. Schulpastoral als Element kirchlicher Sozialraumorientierung

Grundsätzlich können sich Formate kirchlichen Handelns im Sozialraum auf verschiedene Vollzüge kirchlichen Handelns (Diakonie, Liturgie, Glaubenszeugnis und Gemeinschaft) beziehen (vgl. auch Lörsch 2013). Gemeinschaftsfördernd wirkt Kirche, wo sie Orte zur Verfügung stellt, an denen sich Menschen treffen können und wo sie selbst Räume für Gemeinschaft mit den Menschen im Sozialraum schafft. In kirchlichen Arbeitsfeldern, die sich durch Vielfalt und Verschiedenartigkeit auszeichnen, wird dies eher gelingen. Solche Freiräume bietet neben Jugendpastoral und Erwach- senenbildung auch Schulpastoral. Da diese Angebote stets auf Freiwilligkeit bauen, setzen sie entsprechend dem sozialräumlichen Konzept am Willen und den Interessen der Menschen an. So werden Beteiligte ermutigt, sich zu engagieren, weil sie ihre persönlichen Ressourcen einbringen können.

Als Prototyp kirchlichen sozialräumlichen Handelns in der Jugendarbeit kann die 72-Stunden-Aktion des Bundes der Katholischen Jugend (BDKJ) (vgl. https://www.72stunden.de) gelten, die jedoch auch im Rahmen einer schulpastoralen Aktion möglich ist: Jugendliche haben 72 Stunden Zeit, ein Projekt im Sozialraum, wie z. B. die Außengestaltung eines Kindergartens oder den Bau eines Spielplatzes, fertigzustellen. Das Projekt kann nur gelingen, wenn Jugendliche sich engagieren, aber auch unterstützt werden: durch Fach- und Geschäftsleute, die Material oder Know-how zur Verfügung stellen; durch Menschen, die sich um das körperliche Wohl der Jugendlichen kümmern; durch Interessierte, die den Arbeitsfortschritt loben. Am Ende steht eine Verbesserung im Lebensraum aufgrund der Beteiligung vieler. Hier stehen Diakonie und Gemeinschaft im Vordergrund.

Neben der Freiwilligkeit entsprechen weitere Qualitätskriterien der Schulpastoral (vgl. Lob 2015) dem sozialräumlichen Konzept. Das Ernstnehmen von Adressat/innen und Situation erfordert zunächst eine Analyse der Erfordernisse der konkreten Schule und des jeweiligen Sozialraums. Ressourcenorientierung macht es nötig, ein Gespür zu entwickeln, welche Charismen die Beteiligten mitbringen und wie diese eingebunden werden können. Dies eröffnet Möglichkeiten, setzt aber aufgrund fehlender Ressourcen Handlungsgrenzen.

Schulpastoral versteht sich kommunikativ, kooperativ und vernetzend. Hier können sich Menschen mit verschiedenen Kompetenzen als Engagierte einbringen. Das erfordert Gespräche, damit Erwartungen und Kompetenzbereiche umrissen und Konflikte vermieden werden. Das bietet aber auch die Chance, sich mit unterschiedlichen Akteuren und deren Ressourcen im Sozialraum zu vernetzen. So gelingt es, dass die eigene Fachperspektive überwunden wird.

Die – nicht nur weltanschauliche oder religiöse – Heterogenität in der Schule erfordert von den Engagierten in der Schulpastoral differenz- und religionensensibles Umgehen. Schulpastoral kann Kooperationen mit außerschulischen Partnern im Sozialraum suchen, die bestimmte Aspekte unterstützen, und entspricht damit dem Prinzip der Vernetzung und Integration. Hierbei ist neben religiösen Kooperationspartnern wie einem christlichen Jugendverband auch an einen örtlichen Jugendtreff oder an sportliche und kulturelle Anbieter zu denken. Möglich ist es auch, Ehrenamtliche zu suchen, die sich z. B. im Mittagstreff, Nachhilfeangeboten oder Sprachkursen für Geflüchtete engagieren, die von der Schulpastoral initiiert werden.

Fazit

Sozialraumorientierung bedeutet: Sich mit den Men- schen in der Schule auf einen Prozess einzulassen, der nicht auf den Ort der Schule beschränkt ist. Das verlangt auch, sich aus der Schule heraus zu bewegen und nicht nur in gewohnten schulischen und kirchlichen Formaten zu denken und zu handeln. So können neue Gemeinschaften entstehen und neue Wege sichtbar werden, die dem Leben und dem Glauben der Menschen dienen.

Literatur

· Bingel, G. 2011, Sozialraumorientierung revisited. Geschichte, Funktion und Theorie sozialraumbezogener Sozialer Arbeit. Springer VS, Wiesbaden

· Kaupp, A. 2016a, Biografieorientierung in religiösen Lehr- und Aneignungsprozessen unter besonderer Berücksichtigung des Glaubenlernens Erwachsener. In: Religionspädagogische Beiträge 74 (2016), 35–44

· Dethloff, R. 2020, Kirche und Sozialraumorientierung – eine Partnerschaft mit Potential? In: Lämmlin, G./Wegner, G. (Hg.) Kirche im Quartier die Praxis. Ein Handbuch. Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig, 52–63

· Kaupp, A. 2016b, RaumBildung – der Gewinn eines „spatial turn“ für die Praktische Theologie. In: Kaupp, A. (Hg.): Raumdesign: Raumkonzepte im theologischen Diskurs. Interdisziplinäre und interkulturelle Zugänge. Grünewald, Ostfildern, 123–139

· Döring J./Thielmann, T. 2008, Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften. Transcript, Bielefeld

· Kaupp, A. 2021, Corporate Urban Responsibility – [Kirche] in der Stadtentwicklung. In: Drumm, J./Oeben, S. (Hg.) „CSR und Kirche“ (i.E.)

· Früchtel, F. 2014, Raum ist Beziehung. Sozialraumorientierung und unterstützte Beschäftigung. Schriftenreihe „Fachkompetenz unterstützte Beschäftigung“. Bundesarbeitsgemeinschaft Unter-stützte Beschäftigung, Hamburg

· Lämmlin, G./Wegner, G. (Hg.) 2020, Kirche im Quartier die Praxis. Ein Handbuch. Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig

· Früchtel, F./Cyprian, G./Budde, W. 2013, Sozialer Raum und Soziale Arbeit. Textbook Theoretische Grundlagen. Springer VS, Wiesbaden

· Lob, B. 2015, Haltungen und Qualitätskriterien. In: Kaupp, A. u.a. (Hg.) Handbuch Schulpastoral. Für Studium und Praxis, Herder, Freiburg, 96–107

· Fürst, R./Hinte, W. 2020, Sozialraumorientierung 4.0. Das Fachkonzept Prinzipien, Prozesse & Perspektiven. Facultas Verlags- und Buchhandels AG, Wien

· Lörsch, M. 2013, Prinzipien sozialräumlicher Pastoral. In: Online-Zeitschrift „futur2“, https://www.futur2.org/issue/01-2013/ (Zugriff: 05.06.2021)

· Günzel, S. (Hg.) 2009, Raumwissenschaften, Suhrkamp, Frankfurt

· Löw, M. 2001, Raumsoziologie. Suhrkamp, Frankfurt

· Noack, M. 2015, Kompendium Sozialraumorientierung. Geschichte, theoretische Grundlagen, Methoden und kritische Positionen. Beltz Verlag, Weinheim und Basel.

· Hinte, W. 2014, Sozialraumorientierung – Konzepte, Debatten, Forschungsbefunde. In: Fürst, R./Hinte, W. 2014, Sozialraumorientierung. Ein Studienbuch zu fachlichen, institutionellen und finanziellen Aspekten. Facultas Verlags- und Buchhandels AG, Wien, 9–29

· Wössner, U. (Hg.) 2020, Sozialraumorientierung als Fachkonzept Sozialer Arbeit und Steuerungskonzept von Sozialunternehmen. Grundlagen – Umsetzungserfordernisse –

· Hinte, W. 2020, „Zehn Gebote“ für sozialräumliche Arbeit. In: Lämmlin, G./Wegner, G. (Hg.) Kirche im Quartier die Praxis. Ein Handbuch. Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig, 41–51

· https://www.72stunden.de (Zugriff: 05.06.2021)

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